Samstag, 27. Juni 2020
Raum - Koordinatensystem meines Lebens und Denkens
Dieser Begriff, und die damit verbundene „Wende“ zum Raum soll meinen Standort und mein Denken genauer bezeichnen, sprich orten. Mein Standort ist der Ausgangspunkt meines Denkens. Am Standort treffen alle Einfluss-Faktoren zusammen. Mein Wahrnehmen, Denken: das bezeichnet Standort. Mein Standort besteht aus Gewohnheiten, Marotten sowie verschiedenen Theorien und Praktiken den lieben langen Tag mein liebes, langes Leben lang.

Genau dem dient mein Interesse, dem auf die Spur zu kommen, ist mein Lebensinhalt. Die Spur führt zu Rationalem, Emotionalem, Situativem, Grundsätzlichem, Richtigem, Falschem, Irrigem und so weiter, und so weiter. All das bin ich. Ein Patchwork, aus dem kein Lehrgebäude wird (vgl. Glucksmann: Meisterdenker). Dieses Vergraben im Konkreten, meinetwegen auch im Abseitigen (zumindest am Anfang) ist das, was mir die französischen Denker der Gegenwart sympathisch macht (von Virilios Dromologie bis Michel Onfrays Theorie des Sauternes). Da steckt eine Anschauung drin, die wir jenseits des Rheins der Wissenschaft ausgetrieben haben.

Geburt, Eltern die meist genannten Koordinaten für Standort-Faktoren sind nur welche unter vielen. Theorien sind unvermeidbar dabei und auch gar nicht zu vermeiden. Es sind Eselsbrücken mit Verfallsdatum und ich bin der Esel, der dann und wann drüber geht. Soviel vorab zu meinem Standort, wissenschaftlich und lebensweisheitlich, Verortung, die ich schuldig bin.

Die Wende zum Raum, die „topologische Wende“ der Geisteswissenschaften (aber nicht nur die) hat es mir, darum geht es hier, besonders angetan.

Stephan Günzel betrachtet diesen »Spatial Turn« als Paradigmenwechsel der Kultur- und Sozialwissenschaften hin zum Raum. (Stephan Günzel: Raum. Eine kulturwissenschaftliche Einführung, 2. Aufl. 2020).

Die Wende zum Raum kann je nach Ort des Betrachters in der philosophischen Metaphysik, der Sozial- und Kulturphilosophie, der Phänomenologie wirksam werden (vgl. 9ff.)
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Bei Sozialwissenschaft habe ich aufgehorcht. Handelt es sich doch um meinen eigenen wissenschaftlichen Ort. Klarer wie in anderen Disziplinen ist: Dieser Raum „der gesellschaftlichen Praktiken“ setzt Menschen verschiedensten Einflussfaktoren aus.
Diese „raumkritische Wende“ macht deutlich, dass die Alternative in den Geistes- und Kulturwissenschaften ist, nolens volens, die ohne Wende isolierten „kulturellen Grössen“ allein auf der noch übrigbleibenden Zeitachse zu denken. Die Isolierung einer Grösse, eines Phänomens, das dann in der Entwicklung betrachtet wird, sei es Scholastik, sei es Impressionismus, stellt damit implizit die (JPK lineare) Frage nach dem Davor und dem Danach.

McLuhan spricht von einer „Vernichtung des Raums durch die Zeit“ (20). Sehr anschaulich stellt Günzel dar, wie durch die Medien, ob Bild, Buch also Schrift, das „Vorn“ des Raumes mithin die „Neuzeit“ bestimmt ist durch die Blickrichtung der Augen, d.h. die Linearperspektive. Demnach war es der Buchdruck, der ein Zeitverständnis prägt, das nach vorn (in die Zukunft) geht und von hinten (aus der Vergangenheit) kommt (21/22). So wird der Raum neu konstituiert als „Artefakt“, das Visuelles und Auditives in einer „universalen Raumvorstellung“ vereint (25). Dass diese Raumvorstellung geschichtslos ist, versteht sich fast von selbst. Dass sie zur Verabsolutierung neigt, nicht unbedingt. Innenwelten sind solche (unausgedehnten) Räume, Aussenwelten nicht, die sind begrenzt (s. Descartes, 94).

Vice versa: kDie philosophische, geistes-, sozialwissenschaftliche Topologie gibt Menschen im gesellschaftlichen Raum Ort und Stimme zurück, auch ohne eins der üblichen Eintrittstickets, wie sozial, konservativ, liberal, sozialistisch, idealistisch usw. lösen zu müssen. Auch der sogenannte „Alltag“ ist so eins, dabei geht es nicht um den (konstruierten) Alltag als Kategorie, sondern um einen meiner x-beliebigen Tage, der alles enthalten kann/enthält.

Ort-, Feld-, Raumkategorien enthalten topologische Verortungen – und das ganz ohne explizite Eintrittstickets. Implizit aber ist trotzdem so einiges los, so viel, dass sich nun wieder mit der „interdisziplinären Erforschung von Raum-, Orts- und Feldphänomenen“ befasst wird.

Dieter Pfister, einer der zitierten Forscher konzipierte daraus einen Ansatz, bei der sich Persönlichkeitsentwicklung aus der Raumentwicklung ableitet. Persönlichkeit und Charakter als die sich „wiederholenden Muster“ des Menschen mutieren in dieser wahrlich interdisziplinären Zusammenschau flugs zur „Markenpersönlichkeit“. Interessant: Marke und Design, Begriffe aus der Wirtschaft, Seit an Seit mit Persönlichkeit und Charakter. Der etwas holprige Weg über die Topologie hat sich gelohnt: Da finden Inhalte und Formen zusammen, die die Disziplinen mittels geistes-, sozial-, und philosophisch hergeholter Begründungen ansonsten fein säuberlich trennen (vgl. Dieter Pfister: Wikipedia).

Und ja: Wir haben die Kultur vergessen. Nicht vergessen, sondern tunlichst nicht erwähnt, um nicht in ‚Teufels Küche‘ zu kommen. Und das Kommerzielle in eine so intime Verbindung zu bringen mit persönlicher Entwicklung (!), wie soll man das anders nennen als eine ‚Teufelsküche‘.

Und nein: Das kriegen wir nicht runter, da sträubt sich der philosophische Verdauungstrakt. Aber genau so eine Teufelsküche ist unsere Gegenwart. Eine Wirklichkeit, die den Raum, auch den geographischen, als kulturelle Größe, vom Lebens- bis zum Wohnraum überhaupt erst anerkennt. Woran liegts denn, das wir die Nachbarschaft nicht runterbringen?Erraten, an der Kultur. Die trennt Zins von Religion und Kultur von Kommerz. Igitt. Und über Brechreiz und Ekel geht nichts, Nachbarschaft hin oder her.

Nach den emotionalen Schamschwellen, die unseren Bewegungsspielraum begrenzen und abriegeln, wieder einen Blick auf die Theorie, in diesem Fall auf die des sozialen Raums (Wikipedia: Sozialer Raum):

Das Konzept des Sozialen Raums wurde von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu entwickelt. Es dient der Darstellung und Analyse sozialer Strukturen und individueller Positionen (innerhalb diesem, JPK). Die Verteilungsstrukturen des gesamtgesellschaftlichen und des individuellen (!, JPK) Kapitals, d. h. Vermögens im umgreifenden Sinn, zeichnet Bourdieu in einem konstruierten dreidimensionalen sozialen Raum nach.
Vom individuellen Kapital (!) zu sprechen, ist ein Spezifikum von Bourdieu. In der deutschen Philosophie ist Kapital eine grundsätzliche Kategorie, die sich nicht auf die individuelle Ebene herablässt.

Weiter mit Bourdieu, der die Kapitalausstattung von Individuen und Gruppen untersucht und zwar anhand von Merkmalen wie Beruf, Einkommen, Ausbildungsniveau als wichtigste Lebensbedingungen. Das Ganze erweitert und begrenzt durch für ihn sekundäre Merkmale wie Geschlecht, Alter, Ethnie, Nation.

Dies soziale Feld ist die Handlungsebene, das „Spielfeld“, innerhalb des sozialen Raumes.
Biografische Merkmale werden so zu Grössen, die bestimmen, inwieweit die soziale Herkunft, sprich Menge des familiär „ererbten“ d.h. angesammelten Kapitals (!), zuzüglich des Persönlichkeitsbestandteil gewordenen kulturellen Kapitals (!) zum verhaltensprägenden individuellen Kapital (!) werden.

Meine (deutschen) Ausrufezeichen sind unverzichtbar, um die Besonderheit Bourdieus nicht einzuebnen. Die familiäre & individuelle Verortung erlaubt es zu folgern, dass und wie mein Ort im sozialen Raum sich verändern kann.

Urban-Gardening, Ländlicher-Raum, Cyber-Space, Lade-Infrastruktur: Mehr Beispiele für die längst geschehene Hin-Wendung zum Raum gefällig?

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