Mittwoch, 2. Oktober 2019
Wir „Letztbesteiger“
„Letztbesteiger“, mit diesem Ausdruck wurde Reinhold Messmer vor einigen Tagen im Radio zitiert. Das Wort ist nicht von ihm, gab es schon vor ihm. Die Letztbesteigung steht im Gegensatz zur Erstbesteigung. Bei der Erstbesteigung des Mount Everest ohne Sauerstoffmaske war Messmer der erste. An das Wort und das Faktum der Erstbesteigung haben wir uns gewöhnt, die Letztbesteigung dürfte vielen neu sein. Streng genommen, können wir auch gar nicht genau wissen, ob wir wirklich die ersten sind, die den Berg besteigen, den Fuss auf das Land setzen.

Unserer Kenntnis nach, in unserer Zeit, so muss man sagen, sind oder waren wir die ersten. Zu anderer Zeit, man nennt es „vor unserer Zeit“ oder „Vorzeit“ waren es andere Völker, die andere Sprachen sprachen, die Orte anders nannten, die dort waren oder gewesen sein konnten. In Amerika, zum Beispiel, als es noch nicht Amerika hiess und die, die da waren, andere Namen hatten und von woanders herkamen.

Ihre Welt, ihre Orte, ihre Namen, so heisst es, seien versunken. Für uns, die wir eines Tages auf Zeugnisse dieser Menschen stossen, tauchen sie auf, setzen sich zusammen zu Bildern und Karten. Wir versuchen, die Schriften dieser Menschen zu entziffern, ihre Karten zu lesen. Heute, in unserer Zeit.

Letztbesteiger: So wie wir Erstbesteiger sind in unserer Welt, könnten wir auch die Letztbesteiger sein. In unserer oder einer anderen Welt. Richtungswechsel: Letztbesteiger, ist, wie kaum ein anderer Begriff, geeignet, diesen Richtungswechsel anzuzeigen. Einer der wenigen Begriffe, um uns aus diesem Gefängnis, das Zukunft heisst, zu befreien. Ein Begriff, der, weil er unsere Zukunft meint, an unsere Gegenwart gebunden ist. Anders, ganz anders zu sein, bleibt ein leeres Versprechen, das nicht gehalten werden kann. Der Letztbesteiger, wendet den Blick, auch wenn er oben steht, am Ziel seiner Wünsche ist, den Blick zurück: Wenn wir die letzten sind, wer war dann vor uns, wer kommt dann nach uns? Letztbesteiger zu sein, heisst, Abschied zu nehmen. Es gibt Worte, die sind Fakten. Einmal in der Welt, sind sie kaum rauszukriegen. Letztbesteigungen verwandeln eine unabsehbare Zukunft in ein absehbares Ende. Man sieht sich schon umsehen nach anderen Zielen. Dabei geht es doch vorwärts! Das Rad des Schicksals dreht sich, in Indien wie im Mittelalter. Ja, es dreht sich nach vorn, aber ins Ende. Und aus dem Ende kommt etwas anderes, am Ende kommt etwas neues.