Montag, 26. Juni 2023
Martin Buber und das Ende des Idealismus (22.06.)
Idealismus gibt’s in vielen Formen. Aktuell zu nennen: Die Natur, die Menschenrechte. Weniger die Ziele, mehr die Art, der Antrieb ist vorwiegend idealistischer Natur. Nicht zuletzt ist von „glühenden“ Idealisten die Rede. Wo es glühend heiss wird, wird‘s schnell auch bitter kalt. Wie mensch hört, wähle ich eine anschauliche Sprache. Das tut der rechtgläubige Idealismus schon mal eher nicht. Mit Vorliebe bleibt er in der Sphäre „reiner“ Gedanken und abstrakter gedanklicher Konstruktionen. Da hat mensch es weniger mit Menschen zu tun und kann darum auch viel besser hassen. Und töten erst recht.

Martin Buber haben es bereits im Alter von 20, 30 Jahren die chassidischen Geschichten angetan. Ausgerechnet die Chassiden. Prototyp des Feindbildes (Ost-) Jude. Mit allen Merkmalen äusserer Stigmatisierung, vom Outfit bis zum Verhalten. Das ändert sich nur, wenn man ihnen zuhört. Mit der (wenn auch temporären) Lokalisierung in Europa-Ost (die übrigens weltweit, z.B. USA, Israel) so nicht existiert. Unbelassen aber sei ihnen die Minoritäten-Position. Sodann: Aus der Thematisierung des Chassidischen entsteht leicht der Eindruck einer „hinkenden“ Philosophie, so nenne ich das mal. Ein Fuss in den höheren Sphären der Ideale und Ideen – der andere auf dem Boden der Tat, der täglichen Widrigkeiten, Holprigkeiten und Ungereimtheiten. Hinken kann mensch heute auch noch auf die Art: Zwischen dem Vorsatz, dem Sinn einerseits und der Verwirklichung, die Taten anderseits, auf deren Boden der Mensch steht und die der Mensch vor den Füssen hat. In meinen Worten und auf mich bezogen: Der alles subsummierende Grundsatz hier - die detailverliebte Miniatur und Randnotiz dort sind keine Gegensätze sondern gehören zusammen. Möglichst in ein Exempel und einen Satz, jedenfalls in ein Leben. Es gibt viele Kombinationen, viele Hybride, ihre Anzahl tendiert gegen Unendlich, aber die möglichst enge Verzahnung zwischen unvollkommener Tat und vollkommener Absicht tendiert gegen Null trotzdem verdanken wir ihr Einsichten, Lichtblicke, wie sie nur verschiedene Aggregatzustände hervorbringen. Wenn man Martin Buber gefragt hätte, was er denn mal werden will, hätte er gesagt: „Irgendwas mit Menschen.“

Auf die dem Chassidismus eignende Ambivalenz hat Martin Buber gleich zu Anfang hingewiesen (Chassidische Geschichten). Um Pro und Contra klarer im Aüsseren und der Substanz gegeneinander abzugrenzen, ist der Chassidismus dem Feindbild, der Verzeichnung, der Karikatur zu verwandt. Dazu hatten die Chassiden, eine jüdische Erweckungsbewegung, die verkopften und verholzten Dispute gründlich satt. Mensch kann dies geradezu als Anti-These zu Liberalisierung und Assimilation sehen, die ja von der Gleichheit und Gleichberechtigung ausgeht. Wer sich mit Chassiden / Chassidismus auseinandersetzt, kann das nur, wenn er deren Normalität voraussetzt und gerade nicht hervorhebt. Weder „philosemitische“ noch schamhafte Reaktionen helfen weiter. Dieser Prozess der Auseinandersetzung führt geradewegs zur Einsicht: „Kleine“ oder „grosse“ Sünden oder Verdienste gibt’s nicht. Gibt‘s nicht vor Gott, muss mensch um der Gerechtigkeit und Wahrheit willen zufügen.

Ich und Du, Herzstück seiner Begegnungsphilosophie, wird von Martin Buber durchbuchstabiert im Verhöltnis zu seiner Frau Paula Buber. Seine Philosophie wäre nicht halb so überzeugend, liesse er es hier, in der Tat der Begegnung und des Sich-Begegnens fehlen. Und nicht nur das: Sie ist christlicher, er jüdischer Provenienz. Die Assimilation ist auf Ihrer Seite. Das angesichts der rassistischen Verfolgung, die ihr drohte! Nein, klein ist die Beziehung von Martin zu Paula garnicht. Aber wer vergleicht das Beziehungs-klein-klein schon mit dem epochalen Modern und Schlachten! Buber tuts und er tut recht daran. Damit schleift er gleich im Ansatz religiöse Amtsanmassung.

In der jetzt unabhängigen Ukraine erleben die Chassiden der Nach-Sowjetzeit eine Renaissance. Für Martin Buber sind sie Mittel und Weg, dem Idealismus die Stirn zu bieten.

Einer meiner Zugänge zu Martin Buber ist meine Kindheit. Ich erinnere die Sofaecke des grossen Ecksofas, in dem ich sass, rechts, schräg oben, massiv gerahmt, an der Wand: „Onkel Ikon“. Mit erhobenem Zeigefinger und geradeaus gerichtetem Blick, sozusagen mein entfernter Verwandter. Gegenüber, links neben dem Radio, ein kleines gerahmtes Schwarzweissfoto, von dem ich vorwiegend einen akustischen Eindruck hatte: „Martchen Buber“ hiess es in meiner Kindersprache, mit der ich Martin Buber in die Nähe meines Kindermädchens Martchen, wie meine Mutter sie nannte, brachte und wortsprachlich in unsere kleine Familie eingemeindete. Es gab Papa, Mutti, Tata (Haushaltshilfe und Kindermädchen) und eben „Onkel Ikon“ und „Martchen Buber“. Das waren die Autoritäten in meiner Familie. Sie verwiesen auf die Herkunft (50%) meiner Familie, Russland. Sie verwiesen auch auf die geistige Herkunft: Onkel Ikon. Und last not least: Martin Buber und die im jüdischen Kontext bei uns immer wieder erwähnten Chassidim. Ob nun aus schlechtem Gewissen ob der Untaten der Deutschen im Russlandkrieg oder der Shoa an den Juden. Für mich war es in erster Linie das „knappe Gut“ Heimat, das hier sichtbar wurde. Und zwar unter Erwähnung der Juden und der positiven deutsch-jüdischen Integrationsfigur Martin Buber.

Der ist viel zu sehr Teil der Deutschen Philosophie als dass er sich grobschlächtig als „philo“ verhackstücken liesse. Auf gut chassidisch erübrigt sich übrigens diese Klassifizierung weil man es eh‘ mit Verwandten zu tun hat. „Einer von unserer Leit“, wie mein Vater halb juxend, halb ernst im Bekleidungsgeschäft an der Konstablerwache feixte. Natürlich weiss ich, dass meine Ersatzfamilie nicht frei ist von idealistischen Zuschreibungen und Übernahmen. Papa, Onkel Ikon und Martchen Buber, waren Repräsentanten Russlands, des Ostens, des Verlorenen, der Schuld. Von der Familie meines Vaters ist nur noch er da. Seit 2/2022 ist Russland/Ukraine wieder da. Spätestens am 22.06.23 wirft die globale Entwicklung ein neues Licht auf meine Familiengeschichte. Auf die Gefahr, dass ich mir eine sozialromantische Verkitschung vorzuwerfen habe: Unsere kleine Familie war kaputt. Hätte es nicht Tata gegeben, wär sie an innerer Auszehrung zugrunde gegangen. Ist es da nicht kleinlich am Strohhalm herumzumäkeln, der sich findet? Martin Buber hat Unglaubliches ausgehalten. Fast 100 % dessen, was er glaubte, haben rassistische Killer pulverisiert. Hat er den Glauben verloren? Aber nein! Wie Hiob schwor er nicht ab, Und sah (!) was er glaubte. Und im Persönlichen hielt Bubers Glauben stand, trug Früchte in seiner nächsten Nähe ! Was für merkwürdige Familienaufstellungen gibt es, da nehm ich doch die !

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