Mittwoch, 4. November 2020
Gespalten?
„Es scheinet vergessen zu wollen, daß es die Aufklärung so mancher wichtigen Punkte dem bloßen Widerspruche zu danken hat, und daß die Menschen noch über nichts in der Welt einig seyn würden, wenn sie noch über nichts in der Welt gezankt hätten.“[9] Das hat Gotthold Ehraim Lessing gesagt in seiner Streitschrift: Wie die Alten den Tod gebildet (1769).

Man hört es aller Orten: Die Gesellschaft sei gespalten, mehr denn je gespalten. Nichts ist normaler als das in einer Demokratie. Gespalten in Regierung und Opposition, Mehrheit und Minderheit, pro und contra. Ohne dieses pro und contra lässt sich weder ein Modus Vivendi, ein Kompromiss, auch kein Konsens herstellen (siehe Lessing). Auch ein Dissenz als formulierter Status Quo ist unabdingbar für das weitere geregelte Austragen von Meinungsverschiedenheiten.

Das alles überwölbende WIR, die Rede von der Gesellschaft, die WIR sind, die Gemeinschaft, die Wir sein sollen und wollen ist dagegen in seiner Ungenauigkeit und Phrasenhaftigkeit vereinnahmend und lädt zum Missbrauch ein.

Gemeint mit der Rede vom Gespalten-sein, besser: gespalten-bleiben, ist denn auch etwas anderes. Nämlich, dass es nicht gelingt, die unterschiedlichen Positionen zu vermitteln, sprich verständlich zu machen. Damit werden sie akzeptabel, auch, wenn ich sie nicht billige. Ich kann sie akzeptieren, weil ich weiss, es muss nicht das letzte Wort sein. Es können noch viele Worte gewechselt werden.

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