Mittwoch, 24. Mai 2023
Anonyme Melalancholiker
Quelle:
Essay und Diskurs
Fotograf Guy Meyer
Bilder sind stärker als Wörter
Von Michael Magercord | 14.05.2023


>> Jedes Wort lässt ein Bild entstehen.<<

>> Ob die Bilder, die den Diskurs bestimmen, virtuell oder reell sind, diese Frage stellt sich für den Straßburger Fotografen Guy Meyer (Professor für Fotografie, Bildlehre und Multimediadesign der Uni Paris-Sorbonne) nicht: Ein Bild sei immer beides.

>> Der Text aber ist machtlos gegenüber dem Bild.>>

Atheismus und Religion sind dann überaschenderweise die Bezugspunkte an denen Guy Meyer festmacht, was er meint.

<< Ein Atheist sieht zwar tausend Dinge am Tag, aber keinen Tag. Er vermag die Zusammenhänge zwischen all den Eindrücken nicht mehr herzustellen ... <<

Es fällt die Lücke auf zwischen den 1000 Dingen und Eindrücken und der Wahrnehmung des e i n e n Tages.
Die Analogie zwischen dem Umgang mit Bildern und der Gesellschaft lässt dann nicht lange auf sich warten:

<<...das ist die Art, wie unsere Gesellschaften heute mit der Bilderflut umgehen bzw. darin untergehen >>


Theorie der fotografischen Bildrezeption, das ist das selbstgewählte Fach von Guy Meyer. Das Bild sei "Träger des kollektiven Gedächtnisses und des gesellschaftlichen Diskurses", nicht mehr das Wort.

Das Foto sei, so Meyer, kein Abbild der Realität, sondern sein Ende. Allerdings spiegele es Wahn wie Blödheit des Betrachters. Das leiste es schon.

Das digitale Foto in Serie mit dem Smartphone treibt die Problematik hingegen auf die Spitze.

Und das Wort, dass Meyer dafür findet ist: "pervers". Je lückenloser dieser Vorhang von Bildern vor unserem Auge rauscht, umso mehr stellt sich die Frage, was will die Bilderflut nicht zeigen. Pervers=Verkehrung. Das Einzelbild kann noch etwas zeigen, der Bildervorhang nicht. Das Motiv, die Absicht wird verborgen.

Smartphones setzt Meyer ein, um "Merkwürdigkeiten", Abweichungen vom Erwarteten zu dokumentieren. Demgegenüber: "Die Perfektion des aufgenommenen Bildes zieht uns unmittelbar in das Foto hinein. Wir haben gar keine Zeit, uns das Bild genau anzuschauen, wir sehen es kaum und sofort deuten wir seinen Inhalt." Dabei ist das Unerwartete, Unvorhersehbare gerade das Charakteristikum des spontanen (Einzel-) Bildes, klassisch: Schnappschuss. Was da schnappt ist die Zeit, der Bruchteil einer Sekunde, eine Zeitspanne, die die Wahl des Momentes zufällig macht. Das macht, Meyer weiter, das Bild zu etwas surrealem, fiktiven. Auch die pornografische Phantasie läge in Reichweite.
"Hinter dem Horizont eines Bildes lauern die Worte." Das Fotografieen dagegen hatte er eingestellt.
Die Bilder von früher dienen der Erinnerung, der nachträglichen Deutung, und damit wiederum der Fiktion. Als vermeintlichen Sieg des Faktischen würde ich es bezeichnen.

Was zu sehen, verhindert das Foto? Diese Frage stellt sich Meyer. Noch genauer: Welches Detail verstellt den Blick gerade in diesem Moment, während es im nächsten Momente in anderes Detail (desselben Fotos) ist. Die Frage dahinter: Was muss ich tun, um unfotografiert, ungesehen zu bleiben (!). Ich entziehe mich dem Bedürfnis, mich sichtbar zu machen.

Beim Bezeichnen des Fluchtpunkts hilft Meyer wieder die relgioes konnotierte Sprache weiter (siehe Anfang). Der Fluchtpunkt des Nicht-Gesehens-Werden macht den Menschen einsam, Gott ist kein Gegenüber mehr (er existiert höchstens in einem, JPK). "Die Fotografie zögert beim Denken über unser Leben den Moment hinaus, an dem wir in unseren Gedanken bei unserem eigenen Tod ankommen."

Das Foto hat etwas Erlösendes, folgert Meyer. Es macht uns zu "anonymen Melancholikern".