Mittwoch, 3. April 2019
Hotline und Kaltakquise: heiss und kalt
Wie der Digital-Technik Hierarchie, Kontrolle, Paranoia folgen.

Kalt ist die Hand des Akquisiteurs, der zum Hörer greift – Angst.
Hot ist die Line laengst nicht, wenn sie Sofort-Kontakt verspricht.

Hot und Kalt: Innenleben, Emotionen projiziert aufs Telefon, den direkten Draht. Dahinter versteckt sich die Angst.

Projektionen, gegen die nur Abwertung hilft: 'Sind doch nur Kräfte fuer den ersten Kontakt'. Projektionen gegen Gefühle: Vorsicht heiss, Achtung kalt. Kalt, weil du aktiv werden musst. Heiss, weil es so heiss ist, wie du es hörst.

Dagegen hilft: Geh nur einfach nicht ans Telefon!

Was dann bleibt, wenn die Emotionen ausgetrieben, vertrieben sind, ist Kontrolle. Die Daten sind zu Zahlen abstrahiert und vergleichbar. Mit diesen Datenkolonnen muss etwas passieren.
Sonst käme einer und eine sich ja völlig nutzlos vor. Auch, wenn das Ergebnis nur aussieht als wäre es eins. Und: Ergebnislisten lassen sich auch wieder vergleichen, kontrollieren.

So zieht Hierarchie wieder ein: Oben / Unten, Innen / Aussen und Kontrolle. Hierarchien, die wir schon lange auf Abstand glaubten.
Hinter HIerarchie und Angst wuchert Paranoia. Eingemauert! In Paranoia, verschanzt hinter Firewalls.

Darf das wahr sein, dass wir uns in einer „offenen“ Gesellschaft derart vergattern und mundtot machen lassen?

Apropos: Heiss und kalt. Gehört zu Menschenrecht und Meinungsfreiheit nicht auch die unternehmerische Freiheit?

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Mittwoch, 27. März 2019
Wort für Wort II
Mit Klemperer in die Gegenwart:

Das nächste Wort, das so unauffällig wie unverdächtig wie möglich daherkommt, ist das Wort: System. Wie oft haben wir in den 70ern, in meinem Studium, nicht von System gesprochen. Das System stand rechts von uns und war das kapitalistische System, aus dem es, wie man es auch dreht und wendete, kein Entrinnen gab. Da war der Arbeiter, der seinen VW fuhr, da waren wir, die das Gute wollten und das Eigennützige herauskam, wie bei Brechts Guten Menschen von Sezuan. Wir lebten im System, waren von ihm umgeben. Aus allen Wolken falle ich, wenn mir der LTI-Ursprung als einer der Wurzeln aufgeht. Im Gleichschritt marschiert die Organisation mit (115 ff.).

Die Technik, der Glaube an die Technik, ist das nächste Wort (130 ff; 178). Sie glaubten an die Motorisierung im Reich des LTI. Sie glaubten an die Elektrifizierung im Reiche Lenins. Wir glauben an die Digitalisierung. Seit wir „unter Dampf“ stehen, neigt sich unsere Vorstellungswelt der Technik zu.

Unter den vielen Worten, die wir mit dem 3. Imperium verbinden, findet sich an weniger prominenter Stelle, nämlich im historischen Exkurs Professor Klemperers, das Wort Masslosigkeit (149), getrieben von der Angst: „Die deutsche Grundeigenschaft der Masslosigkeit, der Überkonsequenz, des Ins-Grenzenlose-Langens gab den üppigsten Nährboden der Idee her“ (155). Eine deutsche Grundeigenschaft, die Klemperer auf den Franzosen Gobinau und den Engländer Stewart Chamberlain (beide 19. Jh.) zurückführt. Aber die Angst vor der Bedrohung, der Grenzenlosigkeit, die ist deutsch, ganz und gar deutsch, german angst. Und die Masslosigkeit ist Entgrenzung als panische Reaktion. Geradewegs in den Weltuntergang fährt unser Gefährt und fährt und fährt und fährt.

Zunächst aber fährt es nach Europa, das schon für Paul Valery, 1922, ein Begriff aus Athen, Rom und Jerusalem war (180). Gehasster, idealisierter Begriff ist Europa heute noch. Auch der Gegensatz zwischen „Handwerk“ und „Intelligenzbestien“ setzt sich im Kontra zwischen „Praktiker“ und „Theoretiker“ bis heute aversionsgeladen fort. Manch wenig beachtetes Wort hat die Reise in die Gegenwart angetreten (287), wobei auch das gesprochene Wort aus dieser Zeit mit der abgehackten Aussprache seiner Silben einen beträchtlichen Teil für Erinnerung und Zitierung beiträgt (276). Die mit Seo (search engine optimized) behandelten und seo-gereinigten Worte setzen die Reihe der fast unmerklichen Wortbearbeitungen bis in unsere Tage fort.

Mit Harald Welzer aus der Zukunft zurück in die Gegenwart:

Bei Welzer höre ich, wie bei Klemperer, nach einer Parade unserer Ängste (17) die eher unscheinbaren, alltäglichen Worte: „Es war nicht alles schlecht im Kapitalismus“ (21). Das ist Zitat, banales aus unserem Munde. Vor dem Hintergrund solcherart Normalität, erscheint der Flüchtling geradezu als „säkularer“ Prototyp. Fluchtursache sind diese Geschlossenenheiten der Gesellschaften, von ihm „Diktaturen der Gegenwart“ genannt und als digital geschlossene statt offene Gesellschaften präzisiert (42). Geschlossen weil gefüllt durch sofort erfüllte Bedürfnisse, die einer langfristigen Selbstwirksamkeit entgegenstehen (68 f.).

„Weil ich es kann“ zitiert Welzer, die Antwort eines Aktivisten auf die Frage nach dem Grund für sein Engagement. Und ich? Mache Marketing, weil ich es kann! Was zählt ist, den Unterschied machen zu wollen, den kleinstmöglichen nicht den grössten (76) lese ich bei Welzer weiter. Und die Unterschiede im Marketing sind gross. Marketing ist überhaupt ein Wort für ganz Unterschiedliches (s.dort). So gestalte ich Wirklichkeit aus einer Kontra-Produktivität heraus (74/5). Und zwar durch neue „Kombinationen“, „modulare Revolutionen“ (83). Kombinationen, Module, die auch in der IT Wirklichkeit sind (ähnlich wie beim Lego). Das Sein, dem man nicht ausweichen kann, siegt über das Bewusstsein, das durch Begriffe Probleme auf Distanz hält, wie bspw. „Dritte Welt“, „failed states“, „korrupte Regierungen“, „Asylbetrug“, „Islamisierung“. Arbeite ich mit Begriffen wie diesen, übernehme ich diese Distanzen. Rückschritt, Entzivilisierung, ausschliessende Grenzen drohen (154/5).

Mein Leben – meine Worte:

Es ist ja wahr. Sie haben es sich zu leicht gemacht. Zigeuner durfte man nicht sagen. Idiot, schwachsinnig durfte man nicht sagen. Fiel das Wort Vater, fing man schnell eine Bemerkung über den Vater schlechthin ein. Fiel das Wort Hund, dann besser nicht Schäferhund. Blondie, Hitlers Favoritin stand Pate, die hatte so was arisches, ganz anders wie ein krummbeiniger Dackel. Beschloss man irgendwas, fiel ein Chor ein „beschloss ich Politiker zu werden“. Das Ich im Chor, das Ich war Hitler. Die 68er führten neue Zeiten durch Sprachreinigung ein. Falsche Worte verrieten falsches Bewusstsein. Das Wort war Gesinnungsindikator, Bewusstseinsindikator. Das Wort liess tiefenpsychologisch tief blicken. Unter die Oberfläche. Das machen sich die Heutigen zu nutze. Sie nehmen das Wort und brechen das Tabu. Es tut gut, sich klar zu machen, dass die notierte LTI von Klemperer und die von Welzer kritisierten Worte gern unscheinbare Worte adressieren.

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Mittwoch, 13. März 2019
Wort für Wort I
Mit Klemperer in die Vergangenheit:

Die Autorität Klemperers kommt daher, dass er diese Sprache selbst – und zwar 12 Jahre lang erlitten und erlebt hat.

Als eines der drei ersten Wörter nazistisch nennt Klemperer das Wort „Strafexpedition“, ein Import aus der kolonialen, vornationalistischen Vorstellungswelt Deutsch-Afrikas in die unmittelbare Gegenwart und Nachbarschaft mit Kommunisten und Juden (55). Das Wort kommt eher harmlos daher, „Strafe muss sein“. Es bekommt seine Bedeutung durch die Gegenwart.

Das zweite Wort ist „Staatsakt“, auch zunächst unverdächtig, es bekommt seine Aufladung durch ständigen Gebrauch sowie das Aufblasen von Lügen und Symbolpolitik ins Hochoffizielle (56).

In Verbindung mit "Akt" kommt das dritte Wort nicht weniger unauffällig daher: „Aufziehen“. Es passt gut zu „Vorstellung“ aber weniger gut zu „wissenschaftlich aufgezogener“ Forschung, ebenso wie zur „aufgezogenen“ Erziehung. Es hört sich an, als käme man aus dem Gefängnis des Organisierten, Hergestellten garnicht mehr heraus (58 ff.).

Klemperer zieht eine erste Bilanz und verweist auf das Mechanische in der Vorstellungswelt dieser Sprache (59, 25). „Aufziehen“ erinnert ja nicht von Ungefähr an ein Räderwerk.

Benutzten die Nazis das Wort „Aufziehen“, sprechen wir in der digitalen Gegenwart gern vom „Funktionieren“. Das Nervensystem „funktioniert“, die Story „funktioniert“, und was sonst so alles funktioniert oder nicht funktioniert. Funktionieren ist bereits eine Abstraktion, man sieht ja sehr oft gar nicht, was da funktioniert, man sieht nur, dass es funktioniert. Wie es funktioniert ist oft unsichtbar wie die digitale Technik.

Wenn wir heute den Sprach-Tabu-Brüchen von rechts nachsinnen, sollten wir wissen, dass die ersten Sprachvorboten nicht brutal, gewaltsam und schockierend daherkamen, sondern unmerklich und unerkannt, eher unpassend einsickerten, es war die Zeit, die Gegenwart, die sie „aufzog“.

Mit Welzer in die Zukunft mit Zwischenstopp in der Gegenwart:

Welzer trifft mitten in der Zukunftseuphorie auf sprachpolizeiliche „totalitäre“ Aktionen (an anderer Stelle „stalinistische“), etwa, wenn ein Gedicht von Eugen Gomringer, das Strassen und Frauen in einem Vers sich begegnen lässt gelöscht werden muss oder wenn der Begriff „Standpunkt“ auf den Index kommt, weil es ja Menschen diskriminiere, die nicht stehen könnten (177 f.).

Wie haben wir das geschafft, auf dem Weg zur Digitalen Gesellschaft 10.0 flugs in der diktatorischen Vergangenheit zu landen?
Wir haben uns Vorstellungen, Assoziationen verboten, treten als Zensor im Namen unserer Sprachreinheit und Correctness auf.

So weit her ist es also mit dem Fortschritt, der unvermeidlich auf uns zukommt.

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