Mittwoch, 22. Juli 2020
An der Grenze zum Irrtum liegt die Angst.
Über Anne Carson im Dlf 22.07.20:
„An der Grenze zum Irrtum liegt die Angst. Inmitten eines Irrtums herrschen Torheit und Niederlage. Den eigenen Irrtum zu erkennen verursacht Scham und Schuldgefühle. Wirklich?“

I.
Soweit Anne Carson. Ich kenne Carson nicht. Ich lasse mich von ihren Worten erreichen. Ich reisse sie aus dem Zusammenhang und platziere sie in meinem.

Angst sich zu irren. In seinem Urteil falsch zu liegen. Positiv wie negativ. Sich deshalb zurückzuziehen in die eigene Unsicherheit und Schuldgefühle. Ich folge Carson.

Diese in meinen Zusammenhang hineingenommenen Sätze charakterisieren nun mein Schuldgefühl und meine Unsicherheit im Verhältnis zu meiner Vergangenheit, der meines Vaters, der meiner Mutter. Ein eindeutiges Statement, Gewissheit, ein eindeutiges Urteil könnte mir Sicherheit geben und die Angst nehmen. „Wirklich“!

In Reih und Glied marschieren die Argumente contra so wie sie vorher pro marschierten. Die Ordnung ist (wieder) hergestellt. Eine Ordnung, die nicht selten genauso geschlossen und unduldsam ist wie die Ordnung davor.

Mit der Angst leben, wäre auch eine Möglichkeit. Die Angst zu erleiden. Mit der Angst kehre ich zurück in mein Leben.

“Wo die glatte Oberfläche der Wörter brüchig wird“ heißt es in den ersten Sätzen der Charakterisierung Carsons unter halb der Überschrift.

Das Schlüsselwort heisst Grenze. An einer Grenze schaut man in beide Richtungen. Viel Raum für Angst. Angst vor dieser Seite, Angst vor der anderen Seite, Angst sich zu irren. Ich hab selten so einfühlsame Worte über die Angst gelesen. Angst hat der, der die Grenze im Kopf und damit vor Augen hat. Nicht mal der, er die Grenze überschritten hat.

II. So wie mich Worte aus einem anderen Zusammenhang erreichen und das Unterste zuoberst kehren, so kann das berühmt-berüchtigte Ein-Wort-Argument, am besten in Form eines Namens, alles auf den Kopf oder auf die Füsse stellen, zumindest aber die Gegenüber zum Schweigen bringen, wie es im positiven Fall diese zum Denken/Reden gebracht hat. Auf das Argument Solschenizyn (Gulag) folgt dann das Argument Truman (Hiroshima, Nagasaki) und schon ist das Maul gestopft. Unsere Gegenwart ist voller Ein-Wort-Argumentation. Sie ist der Vorläufer
der Hass-Rede, in der der Hass das wichtigste ist. Ein Wort reicht.

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