Montag, 23. November 2020
Wie ich Minderheit wurde
Gümüsay: Ein Beispiel, um einmal zu erläutern, wie eine Kategorie zu einem Käfig werden kann, ist, wenn wir den Blick einmal umdrehen. Wenn wir zum Beispiel von alten weißen Männern sprechen, denen ja pauschale Zuschreibungen jetzt nun gegenwärtig zugeordnet werden, zum Beispiel, dass sie rassistisch seien, dass sie privilegiert seien, dass sie ignorant seien, konservativ und viele, viele andere Dinge- Und die Reaktionen darauf zeigen uns, wie einengend es ist, wenn ein Mensch nicht mehr als Individuum auftreten darf, sondern sich zu seiner Kategorie verhalten muss, also beispielsweise nachweisen muss permanent, dass er nicht rassistisch ist, nicht sexistisch ist, nicht konservativ ist oder nicht übermäßig privilegiert ist.
LESART / ARCHIV | Beitrag vom 14.03.2020
Kübra Gümüşay über „Sprache und Sein“ Von „Gutmenschen“ und „alten weißen Männern“ Moderation: Maike Albath in: LESART / ARCHIV | Beitrag vom 14.03.2020

Das Problem ist nicht, dass ich es nicht auch schon gedacht habe. Das Problem ist, dass es so selten zu lesen ist. Und wenn, dann als Machtanspruch alter weisser Männer, also von den falschen. Es kann also z.Zt. (nur) von jungen nicht-weissen Frauen geäussert werden.

Der Steg ist bisweilen schmal, auf dem man steht, um Wahrheiten hören zu können. Der Steg wird nur sichtbar, wenn „wir den Blick einmal umdrehen“. Umdrehen heisst: nicht von mir nach aussen, sondern vom angenommenen externen Standpunkt auf mich.

Dann sehe ich das Prekaere, Wackelige an meiner Existenz und die sichere Selbstverständlichkeit geht flöten.

Dann fängt der Lebenssinn an. Der erstrittene, erlittene,erkämpfte. Der, der den Angriffen standhält. Sie sind dann die, die sie trotz den oder jenen Widrigkeiten heute sind. Trotz Eltern, trotz Benachteiligung, trotz happigen Irrtümern, trotz vermeintlichem Aus und Ende. Dann verkehrt sich das trotz ins wegen.
Aus diesen trotz wächst die Chance, dass aus dem wegen nicht wieder dominantes Herrschen und Herrschenwollen wird.
Aus diesen trotz werden die Balken, die mein Wasser hat
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Mittwoch, 4. November 2020
Gespalten?
„Es scheinet vergessen zu wollen, daß es die Aufklärung so mancher wichtigen Punkte dem bloßen Widerspruche zu danken hat, und daß die Menschen noch über nichts in der Welt einig seyn würden, wenn sie noch über nichts in der Welt gezankt hätten.“[9] Das hat Gotthold Ehraim Lessing gesagt in seiner Streitschrift: Wie die Alten den Tod gebildet (1769).

Man hört es aller Orten: Die Gesellschaft sei gespalten, mehr denn je gespalten. Nichts ist normaler als das in einer Demokratie. Gespalten in Regierung und Opposition, Mehrheit und Minderheit, pro und contra. Ohne dieses pro und contra lässt sich weder ein Modus Vivendi, ein Kompromiss, auch kein Konsens herstellen (siehe Lessing). Auch ein Dissenz als formulierter Status Quo ist unabdingbar für das weitere geregelte Austragen von Meinungsverschiedenheiten.

Das alles überwölbende WIR, die Rede von der Gesellschaft, die WIR sind, die Gemeinschaft, die Wir sein sollen und wollen ist dagegen in seiner Ungenauigkeit und Phrasenhaftigkeit vereinnahmend und lädt zum Missbrauch ein.

Gemeint mit der Rede vom Gespalten-sein, besser: gespalten-bleiben, ist denn auch etwas anderes. Nämlich, dass es nicht gelingt, die unterschiedlichen Positionen zu vermitteln, sprich verständlich zu machen. Damit werden sie akzeptabel, auch, wenn ich sie nicht billige. Ich kann sie akzeptieren, weil ich weiss, es muss nicht das letzte Wort sein. Es können noch viele Worte gewechselt werden.

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Sonntag, 1. November 2020
Risiko und Widerstand
Ich wünschte, man kann das mal über mich sagen. Eine so gut wie gegenstandslose Hoffnung. Ausser, man führt sich das Werk ihres ersten Mannes Adolf Endler vor Augen, nur in einer Handpresse mit ca. 300 Exemplaren zu veröffentlichen. Daran reicht dieser Blog, in seiner Unwahrscheinlichkeit gelesen zu werden, wenn auch entfernt, vielleicht heran. Ich muss meine Leser auch nicht kennen, sie dürfen anonym bleiben.

„Ich bin außerhalb der Form. Und das ist eine Chance und ein Risiko. Die Menschheit geht mit mir ein Risiko ein, ich diene als Risiko.“ (Wikipedia: Elke Erb)

Das Risiko des Missverständnis übernehme ich daraus für mich.

„Den Sinn ihres Widerspruchs indessen hätten diese Texte nicht haben können, hätten sie nicht einen eigenen, autonomen Sinn aufgebaut. Der war es (und nicht Kampfgeist), der sich einen Weg aus Untertänigkeit, Konsumtion und unproduktiver Ausbeutung suchte.“ (Aus: Pressespiegel Ihres Verlegers)

Der Bundespräsident spricht anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes von ihrem „legendären Eigensinn.

Durch die Nicht-Form, durch den autonomen Eigensinn, der der sich einen Weg sucht aus Anpassung und Konformität, anzuecken, aufzufallen und ausgesondert zu werden, ist als Ziel fast zu kühn, um ausgesprochen zu werden. Aber es gibt solche Menschen, sagen wir mal: es ist ihnen gegeben, und dichten und schreiben, muss man dazu auch nicht unbedingt. Nicht dieses gewollte um jeden Preis Opposition sein. Anecken als Mensch.

Um der vollen Wahrheit die Ehre zu geben: Ihr Vater, ihr erster und zweiter Mann, auch die Mutter, bildeten eine Literaten-Familie, wohl eine Art Schutz. An Adolf Endler trauten sich die Hinauswerfer ran, an sie nicht. Der hatte sich mit Biermann als Grund des Widerstands befasst, sie mit Roland Jahn. Vielleicht hab ich auch meine unbekannten Schutzengel.

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