Freitag, 23. Oktober 2020
Bunin und Paty: meine Helden des Tages
Wie sich für Helden des Tages gehört: Beide wurden aktuell für mich am 22.10.20. Der eine, weil er Tage vorher von einem 18-Jährigen enthauptet worden war. Der andere, weil im Radio seines 150. Geburtstags gedacht wurde (DLF 22.10.2020: 150. Geburtstag des Literaturnobelpreisträgers Iwan Bunin – sozialkritisch, aber kein Revolutionär).

In seiner Dankrede für den Literaturnobelpreis 1933 in Stockholm sagte Bunin unter anderem:
„… Wer bin ich in Wirklichkeit? Ein Flüchtling …“

Und den Bolschewisten, den ideologischen Lehrern der russischen Revolution sagte er 1917: „Gib all diesen Lehrern völlig freie Hand … und heraus kommt ein derartiges Dunkel, … etwas derart Brutales, Ungebildetes, Unmenschliches, dass das ganze Gebäude unter den Verwünschungen der Menschheit zusammenbricht.“

Das Imponierende an diesem Kurz- und Liebesgeschichten schreibenden Poeten ist der Abscheu gegen Gewalt, der der Zaren-Gewaltherrschaft wie der der bolschewistischen. Und das bereits 1919! Und alles ohne Semi-Distanz und falschen Vergleich. Im Flüchtling liegt die Distanz. Und diese Distanz macht den Flüchtling. Ausser diesem Nachruf weiss ich (zur Zeit) nichts von Bunin, nur das, was er mir sagt.


Auch vom anderen weiss ich fast nichts. Es gibt ein Foto von ihm mit Sonnenbrille. Paty sei "das Gesicht der Republik geworden", sagte Präsident Macron bei der Verleihung des Verdienstordens der Ehrenlegion (afp Nachrichten 21.10.2020).

Ich weiss nicht, ob ich die Mohammed-Karikaturen im Unterricht gezeigt hätte. Wahrscheinlich hätte ich etwas weniger brutales, konfontierendes gezeigt. Am Gehalt hätte ich keine Abstriche gemacht. Gradmesser ist die Verletzung der eigenen Religion. Mir fällt da Monty Python ein.

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Montag, 21. September 2020
Individuum - Kollektiv - Gewissen
Die Organisation der (Massen-) Gesellschaft hier – der Seelenhaushalts dort, Themen, die ich im Augenblick im Zusammenhang mit neuen Formen des Lernens am Wickel habe:

Wir erkennen im Seelenhaushalt nicht nur Strukturmerkmale des Gesellschaft. Individuen finden sich auch selbst wieder in der Gestalt der Gesellschaftsorganisation. Aber: Irrtum inbegriffen. Vom Ich-Überich-Es bis zum Triebstau. Wir sind versucht Analogien herzustellen, damit wir uns und unsere Umgebung besser verstehen. Nochmal: Wir stellen diese schiefe Vergleiche her. Einerseits, um uns wie gesagt zu orientieren, aber auch, um uns in unserer „Einzigartigkeit“, eben Individualität, zu unterscheiden. Je mehr verordnete Massengesellschaft also, desto mehr behauptete (demonstrative) Individualität.

Wir erkennen das auch an einem anderen Phänomen: Wird uns im Rückblick auf das eine oder andere Geschehen vorgeworfen, mitgemacht zu haben, distanzieren wir uns entweder (Wir seien im Gegenteil dagegen gewesen!) oder nehmen zerknirscht (seltener) den Kopf unter den Arm, mit der Versicherung, uns demnächst keine Abweichung mehr zuschulden kommen zu lassen. Die Mass-Einheit für beides ist nicht valide, sondern subjektiv vom Standort beeinflusst. Dabei ist die Sicht gar nicht mal zwingend unehrlich, sondern: In dem einem Fall schieben sich individuelle Unterscheidungsgesichtspunkte in den Vordergrund, in dem anderen Fall sind es kollektive Gesichtspunkte. Wir sind nicht unparteiisch. Wir sind Partei. In unserer Erziehung, in unserem Werdegang spielte beides eine Rolle.

Deswegen ist es am besten, sich zu sehen als von beidem beeinflusst: Vom Impuls zur Opposition, zum Widerstand, wie im Gegensatz: Beeinflusst zu sein von der Angst allein zu sein, sprich vom Kollektiv.

Es macht Sinn, beide Tendenzen immer genauer Auszutarieren, indem man sich selbst immer besser kennenlernt. Im Drang zum persönlichen Widerstand, der beileibe noch kein politisch-gesellschaftlicher sein muss. Im Sich-Verstecken im Kollektiv, und zwar aus Angst.

So gefährdet diese individuelle Justierung ist, so unentbehrlich ist sie. Um nicht zu sagen kostbar. Ein Juwel. Es wird auch Gewissen genannt. Das Gewissen kann deformiert werden, es kann überempfindlich werden, es ist nicht unverletzlich. Wir müssen es pflegen.

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Freitag, 18. September 2020
Dummer Bauer findet Hitbodedut
Der dümmste Bauer findet die grössten Kartoffeln sagt das Sprichwort. Aber Bauer muss der Finder schon sein. Er muss schon wissen, dass er von den Früchten der Erde lebt. Wem der Bauer zu dumm ist, kann den Spruch ja im übertragenen Sinn nehmen. Ich jedenfalls hab eine Perle gefunden. Wo ist ja auch egal. Da, wo man keine Perle sucht, jedenfalls. Die Perle hört auf den Namen Hitbodedut.

„Während einer Sitzung mit Hitbodedut schüttet der Praktizierende sein Herz in seiner eigenen Sprache an Gott aus und beschreibt alle seine Gedanken, Gefühle, Probleme und Frustrationen. Nichts wurde von Rebbe Nachman als zu banal für Diskussionen angesehen, einschließlich Geschäftsbeziehungen, widersprüchlicher Wünsche und alltäglicher Interaktionen.“ Das kann man bei Wikipedia unter dem Stichwort Hitbodedut nachlesen.

Nachzulesen ist auch, dass diese Innenkommunikation zu einem Zustand berstender Freude führt. Ich erfahre sodann von dem mir gänzlich unbekannten Rabbi Nachman und den Breslav Chassiden, welches in der Nähe liegt. Martin Huber hat die Geschichten von Rabbi Nachman gesammelt und neu verfasst.

Die Chassiden pilgern seit 1988 zu Rosch Haschana nach Uman, Ukraine. Dieses Jahr sind die Grenzen dicht, das gab Ärger und so kamen sie in die Presse mit ihrer wiederbelebten Pilgerreise.

Gott-Mensch Nahbeziehung im Alltag und nicht kurz davor, daneben oder danach. Dass dieses „im“ schon die Freude ist, die ausbricht, braucht gleichgesinnten Menschen nicht gesagt zu werden. Hitbodedut ist Glaube, Reformation und Extase in einem. Dass gerade in unserer Zeit die Erinnerung daran wieder auflebt, wundert nur die Neunmalklugen.

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