Dienstag, 28. April 2020
Von der Sprachregelung zur Sprachreinigung II.
Es scheint so, als wolle man in Abständen Begriffe und Zustände wieder aufleben lassen. Oder besser gesagt: als griffe man auf diese zurück. Geschichte wirkt dann als Muster. So hat die Spaltung der potentiellen Demokratie-Verteidiger die Weimarer Republik zu Grabe getragen. So fand sich nun zu Zeiten der 68er die Spaltung zwischen Verfechtern des Bündnisses „nur“ der Demokraten versus eines Bündnisses aller „fortschrittlichen Kräfte“ wieder, die die Kommunisten eben nicht pauschal ausgrenzten.

Im Prinzip aber ging es um einen nachgeholten Kampf um die Demokratie, den diese Generation noch gar nicht ausgefochten hatte. Daher der erbitterten Kampf um Worte, der auch in den 68ern tobte, in denen ich erwachsen wurde. Daher meine Passion, selbst Worte zu finden, um nicht Kämpfe anderer zu kämpfen.
Eigene Worte und Wahrnehmungen stehen schnell unter dem Verdacht der Inkorrektness. Sie lassen sich zwar absichern durch Belege und Beweise, das Verfahren aber ist aufwendiger und differenzierter als das des schlichten Einspeisens von Mehrheitsmeinungen und Sprachregelungen. Gleichwohl beruft sich auch die nicht vorab durch Mehrheitssprech abgesicherte Meinung darauf, was die Demokratie konstituiert: Worte, Antworten, Widerspruch, Argumente, Dialoge. Diese beziehen sich auf andere Menschen, Meinungen, Aussprüche. Sie stehen nicht für sich allein, sondern sind Teil eines Kommunikationsprozesses.
Nach dem „Sieg“ der Demokratie jenseits der Mauer, vulgo Wiedervereinigung, kam die Revanche der Verlierer von '89, in Form der Wiederbelebung inkriminierter Begriffe, wie „Umvolkung“, die die endlich offenen Grenzen zum Anlass rassistischen Abgrenzung nehmen. Farbliche Begriffe, wie „rote Socken“ waren besetzt, also fand ein Rückgriff in der Sprache statt auf die Zeit davor. Wie sieht’s aus mit Polen, Tschechien und Ungarn? Rechtsruck kann man es nennen, aber das reicht nicht, um verständlich werden zu lassen, was passiert: Naemlich ein Rückgriff auf die Zeit der Diktatur, in der man kein anderes Mittel hatte, als das der Fundamentalopposition gegen die Übermacht, an deren Stelle jetzt Europa getreten ist. Die alten oppositionellen Eliten aber existieren noch und verführen angesichts des Teil-Rollbacks dazu, nicht zu beachten, wo die Geschichte weitergeht, nämlich z.Zt. in Österreich, in Italien, in Rumänien, in der Slowakei, wo die Bevölkerung dieses Hin- und Her zu einem Prozess der politischen Emanzipierung nutzt.

Sprachreinigung und kein Ende. Das Wort der Stunde ist „toxisch“. Plötzlich ist alles toxisch. Worte sind toxisch, Beziehungen sind toxisch, es wird von einem „digitalem Detox“ gesprochen. Sprachreinigung nimmt den Charakter von Desinfektion, Entgiftung an.

... link


Sonntag, 26. April 2020
Liebe Leserinnen,
Jetzt ist der Mann in den Leserinnen enthalten, wie vordem die Frau im Leser. Entschieden von einer Redaktion, einem Ausschuss, einer Sprachgesellschaft. Gehört – gemerkt.

So funktioniert nicht nur die Regelung der Sprache beginnt, so funktioniert auch die Reinigung der Sprache. Und von da ist es nicht mehr weit zur Korrektness. Und damits ganz korrekt ist: Korrektness mit K.

Wir sind ständig dabei, unsere Sprache zu regeln. Wir stellen fest, dass Begriffe nicht mehr passen, neue müssen her, am besten englische. Und alles ohne SEO. Denn vor lauter Regelung und Reinigung haben wir noch garnicht von SEO gesprochen, Search Engine Optimization, Suchmaschinenoptimierung auf Deutsch. Die Leserinnen müssen die Worte schon SEO-korrekt eingeben, wenn SEO was finden soll. Im Internet, in Wortprogrammen, in Suchmaschinen, z.B. Google. Das Territorium für SEO.

Mit SEO geht Regelung konkret in Reinigung über. Worte werden be- und genutzt, damit man findet. Man findet es dann, wenn man schon das „richtige“ Wort hat. Alles andere neben diesem Wort, findet man nicht. Oder nur nebenbei. Oder nur zufällig. So bauen wir uns eine neue Sprache und reinigen die alte. Auch wenn uns die Seokraten hoch und heilig versichern, das werde sich sicher ändern und viel genauer justiert, wenn nämlich erst die Such-Maschinen optimiert wären. Dabei lebt doch das Suchen immer ein Stück weit von der Ungenauigkeit. Sonst wäre es kein Suchen.
Und wir dachten, wir hätten die Sprache geregelt und gereinigt, und dann sehen wir, dass die Sprache, reden wir nicht drum herum, Herrschaft errichtet hat. Ja, Herrschaft. Über Sprache wird Herrschaft abgesichert und stabilisiert. Und wenn es erstmal „nur“ die Herrschaft der Begriffe ist. Staunend stelle ich fest, dass nicht nur Denken, sondern auch Herrschaft und Gesellschaft aus Sprache gebaut sind. Gesänge, Befehle, Dispute, Dialoge, Abstimmungen, Scherbengerichte, Revolutionen. Worte, Worte, Worte. Ganz besonders in Europa. Siehe meine Beiträge zu Klemperer.

Immer wieder geht das Spiel von vorn los. Das muss die Sprache gemerkt haben, dass sie nicht ganz und gar und völlig neu ist. Sonst würde sie nicht immer wieder und immer noch auf Worte von gestern und vorgestern zurückgreifen. Mit der „Restauration“ und der „Stunde 0“ ging die Sprachregelung und -reinigung in der Bundesrepublik los. Und der Begriff Restauration war auch nicht ganz neu. Mit „Restauration“ machte man einen grossen Satz über das 3. Reich, Weimar und Bismarck in die „Restauration“, die Zeit des Wiener Kongress, die den Zustand vor der französischen und napoleonischen Revolution „restaurieren“ sollte. Das also war Flucht-und Bezugspunkt der Restauratoren der 1945er Nach-Kapitulationszeit, folgt man den Worten: Hinter der eingeleiteten aber nicht zum Zuge gekommenen Revolution der Weimarer Republik stand die Mutter der Revolutionen, die französische.

... link


Sonntag, 19. April 2020
Bildung: Prozess statt Status
Das ist eine Binsenweisheit. Gedacht allerdings wird Bildung als Besitzstand, als etwas was man gelernt hat, worauf man aufbaut.

Wenn aber in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft heftig über disruptive Entwicklungen und Prozesse nachgedacht wird, die nicht nur einen Fortschritt zum Vorherigen, sondern einen Bruch markieren, könnte es Zeit sein, auch in Sachen Bildung grundsätzlich in Prozessen zu denken.

Nehmen wir z.B. die IT: Die IT entwickelt sich zur Querschnitt-Qualifikation, die überall drinsteckt. Vom Smartphone bis zur Statistik. Negieren geht nicht. Die einzig richtige Frage ist: „Wo brauche ich was und wozu und was brauche ich nicht“.

Und jetzt passiert folgendes:
Die neuen Zugänge und Geräte verändern bei mir mit der Zeit auch das, was ich von ihnen erwarte.

Und noch ein paar Takte später verändern sie meine Bedürfnisse. Wenn ich gelernt habe, was ich erwarten kann und was nicht.

In Sachen Erwarten und Lernen werde ich immer geübter werden, auch wenn die Komplexität überproportional zunimmt. Das Neue wird der Regelfall. Und für alles, was neu ist, tritt (automatisch) §1 Disruptions“gesetzes“ in Kraft.

Noch weiter: Alles, was gestern disruptive neu war, kann heute schon ganz anders disruptiv neu sein, und zwar so disruptiv, dass ich von gestern nicht, keinesfalls, auf heute schliessen kann.

So buergert sich der Übergang, das Fliessen ein. Und Bildung bezeichnet den Übergang, die Transmission, selbst.

... link