Freitag, 15. Juli 2016
Freitag, 15. Juli 2016
Gesetz und Freiheit

"Ein Fisch oder Vogel im Schwarm macht keine Physik sondern achtet bloß auf das, was sein Nachbar tut" zitiert die Autorin Katrin Blauvat den Biologen Iain Cozin. Eine Aussage, die ein etwas anderes Licht auf das wirft, was wir Schwarmintelligenz nennen. Schwarmintelligenz ist nicht einfach die Intelligenz der Vielen. Sie schaltet nicht einfach das individuelle Steuerungsvermögen aus, sondern: In bestimmten Situationen übernimmt die Navigation im Schwarm. Beispielsweise existiert, so der Artikel weiter, eine schnellere Informationsverarbeitung der Stärlinge im Schwarm, was bedeutet, dass sich seine Reaktionszeit im Schwarm auf einen Lichtreiz von 40 Millisekunden sich auf die Hälfte der Reaktionszeit eines einzelnen Stärlings halbiert. (Katrin Blauvat, Und nun alle zusammen in: Süddeutsche Zeitung vom 20.05. 2016). Aber das heisst ja auch: Er kann es auch allein, unser Star, und wie er es kann: Die waghalsigsten Flugmanöver legt er hin.

Verhalten in Gruppen weicht ab vom Verhalten des Einzelnen, das ist nicht wirklich neu. Aber allein durch die Menge von bis zu 50 Millionen Vögel in einem Schwarm hat die Schwarm-Faszination, ob bei Google, Facebook oder sonstwo im Netz kräftig Auftrieb bekommen.

Steuerung im Schwarm durch Nähe und Nachbarschaft einerseits versus Steuerung durch Gesetze und Grundsätze, die für viele oder alle gelten, das ist für uns Kinder der Buchreligionen etwas verblüffend neues. Sind wir doch gewohnt, auf empfundene oder tatsächliche Ungerechtigkeit" mit Verweis auf allgemein gültige Gesetze zu reagieren. Wir leben in der Zeit der Gesetzbücher. Was nicht schriftlich fixiert ist, steht im Verdacht, („nur“) informell und abhängig vom Goodwill zu sein. Dabei liefern Mythen und Ursprungslegenden der Religionen Erklärungsmodelle und Anschauungsbeispiele für das Verhältnis von Buchstaben und Geist. Die Religionen selbst zeugen von der Dynamik des Prozesses zwischen Gesetz und Sinn und dem Übergang von einem zum anderen. Ein Prozess, von dem die Religion als Ganzes genauso wenig ausgespart ist, wie der Glaube des Einzelnen. Das ist auch eine Erfahrung, die uns im Glauben verbindet, wenn auch nicht unbedingt in der Religion. Das Scheitern an den Gesetzen und Verkehren der Befolgung ins Gegenteil

Die uns lebenslang begleitende Kluft und Ambivalenz zwischen Gesetz und Freiheit sagt uns, dass die Zeit der Gesetze und Kodierung noch nicht die letzte ist, dass durch und nach dem Gesetz noch etwas kommt: Freiheit vom oder durch das Gesetz. Genauer: Praktisch unvermeidliche Gesetzesübertretungen, demonstrieren überhaupt erst den Zwiespalt, die Differenz zur Motivation, das Gute tun zu wollen.

Den Vielen bedeutet Schwarmintelligenz, den Verstand an der Software-Garderobe abzugeben und dem Kollektiv das Feld zu überlassen. Aber Schwärme, Rudel, Herden können sich verfliegen, verlaufen, verirren. Viele folgen vielen andern in den Tod. Der Schwarm kann das Überleben sichern aber auch den Tod garantieren. Regt sich Widerstand beim Einzelnen gegen solch ein "Naturgesetz", ist nicht nur Angst und Zweifel am Werk, sondern der Geist, auch der Geist der Freiheit. Dem Geist der Freiheit mehr zu Raum geben, auch zur Bestimmung von Freiraum, ist das jenseits des Gesetzes liegende Ziel.