Dienstag, 13. September 2022
Das Land U und seine Menschen II
Von mir für mich, übereignet am 19.05.2022, jetzo überarbeitet

Ich sitze auf der Wartebank im Bahnhof. Kurzes Gespräch mit dem Banknachbarn. ?Vor den Russen waren wir in der Ukraine?, sage ich. ?Ach, das war doch nur ein Blitzkrieg', die Antwort. Der Akzent scheint mir ein östlicher zu sein, aber woher, das will er mir, verschmitzt freundlich, nicht sagen.

Blitzkrieg, das klingt wie >>Rauchen, aber nicht inhalieren<<. Nur: Hier handelte es sich um einen mehrjährigen Vernichtungskrieg. Ich bin irritiert. Kann man das glauben, dass dieser Krieg nur eine quasi äusserliche Angelegenheit war, der nicht >>tief<< ging? Das lässt mich nicht mehr los:

Aus Filmen und Bildern vor 1945 blicken hinterhältige, niedriggesonnene, mordlustige Menschen, wie die SS-Veröffentlichung 'Der Untermensch' von 1942 die ihrerseits propagierte Sicht auf diese Menschen beschrieb. Aber sie blicken mich an, viele jedenfalls. Sind sich nicht bewusst, in welchem Ausmass und welcher Perfektionierung sie angeschaut und erniedrigt werden. Dies wiederum begreift der Schaulustige als Widerstand und Provokation. Bei Opfern, die sich damit auskennen, jüdischen Menschen beispielsweise, dominiert die Objekt- und Opferhaltung. Sie wissen, was in diesem Blick liegt, sind sich bewusst, dass und wie sie angeschaut werden. Auch das ein Beleg: Wir, die Schauenden, wissen was wir tun. Die Scham der Opfer wird schlussendlich unsere Scham. Wir können sie nicht verbergen, muessen schliesslich irgendwann wegschauen, die meisten jedenfalls.

All das findet sich auch im Bild des Deutschen vom Russen sozusagen als Vorurteil light. Die Spuren sind alle da, aber mehr als Schwanken, als Labilität, als Drohung. Die Spuren, die meine aus St. Petersburg gebürtigen Grosseltern, er Jurist, sie verhinderte Pianistin, an mir hinterlassen haben, ist die Grossspurigkeit, grossspurig wie die russische Eisenbahn. Mein Vater setzte mir aus Spass eine Pfeife in den Mund, meine Mutter hängte mir nur so ihren Pelzkragen um und fertig war der Spross eines russischen Grossgrundbesitzers. Sie amüsierten sich prächtig, nicht ohne ein Bild (schwarz/weiss) von mir zu machen, nicht ohne das Quantum Gruseln, für das Russen gut sind.
Meine Mutter erzählte gern, dass einer unser Vorfahren den kleinen Zarewitsch auf dem Arm gehalten habe, wie weiland schon Rasputin. Auch davon gab es ein Foto. Nicht von meinem Ahn, aber von Rasputin. Auch in schwarz/weiss, verblichen, zeitgemäss unscharf, was den Gruselfaktor noch steigerte.

Gerade Unschärfe öffnet Raum für die Angst, Projektionsraum.
?Rasputin und das ABC' bilanziert Wikipedia dies Kapitel der Blechtrommel von Grass.
?Schnell wird Oskar klar, dass er ohne Schulbildung ins Hintertreffen gerät. So macht er sich auf, jemanden zu finden, der ihn unterrichten will. Bei seiner Suche gerät er an die Bäckersfrau, Gretchen Scheffler. Sie und ihr Mann sind kinderlos, weswegen sie gerne mit Oskar Zeit verbringt. Ebenso hegt sie eine Vorliebe fürs Stricken. Bei seinen BESUCHEN gelingt es Oskar geschickt, Gretchen dazu zu bringen, ihm aus dem Buch Rasputin und die Frauen? vorzulesen. Später kommen von Goethe die Wahlverwandtschaften dazu. Oft reißt er einige vorgelesene Seiten aus beiden Büchern, um sie später alleine studieren zu können. So lernt Oskar lesen und schreiben, was er aber niemandem offenbart.?

Soweit Wikipedia, wenn wir nach Oskar Matzerath und die Bildung fragen.

Grass spricht in seiner Blechtrommel davon, dass es sich bei dem Werk, an dem Oskar seine Weltanschauung buchstabieren lernt, um ein ?ungebundenes Buch? handelt.

Die Einzelblaetter ? geraten wild durcheinander. So wie die Projektionen, die Deutsche über Russen pflegen. Sie treiben das Gesamtkunstwerk Bildung erst zur vollen Blüte: Lesen wie Bildung, Sex wie Pubertät. Rasputin, der diabolische Magier ist eine Super-Projektion. Auch dies eine Bildungsfrucht à la Grass. Das Motiv ist auch in Katz und Maus (1961) zu finden. Pubertäre Sexspiele auf der Sandbank ziehen zweifelhafte Eigenschaften hinter sich her: lauernd, dumpf, primitiv, roh, gutmütig, beschränkt, hinterhältig, mordlustig, verschlagen, rücksichtslos, gierig.

Die Verzerrungen und Karikaturen des Jüdischen sind in all dem inklusive enthalten. Wir sind meist so fixiert auf Antisemitismus, dass wir gar nicht merken, was dieser an Belastung und Dreck seiner Normalo-Umgebung mitführt. Oskar Matzerath kommt endlich in die Psychiatrie, mal als behandelter Patient und Objekt, mal als behandelnder Pfleger und Subjekt.

Projektionen benötigen Abgrenzungen. So die Abgrenzung meiner Mutter, Enkelin eines durch die Industrialisierung arbeitslos gewordenen Drechslermeisters, vom Proletarischen. So auch ihre Abgrenzung von der als grobschlächtig empfundenen Sexualität der BDM-Mädels, in der nicht wenig Proletariat steckte. Sie schüttelte sich wortwörtlich, dachte sie nur dran. Beides lag auf der Linie des Sich-Abgrenzens, des Auf-sich-Haltens. Nach dem Tod ihres Mannes nahm sie in wenigen Monaten ab und hielt fortan ihr Gewicht. Kleinbürgertum und Proletariat trennt viel.

Die Familie meines Vaters dagegen endete im Nachkriegs-Deutschland wie ein Gleis im Nirgendwo, um im familiäreren eisenbahnromantischen Bild zu bleiben. Das Gleis führte von St. Petersburg nach Eltville am Rhein. Einspurig ging es weiter nach Hamburg. Es endete nach Jahren stationären Aufenthalts im Krankenhaus in der Familie meiner Mutter, er hatte ja keine.

Keine Endstation, kein Anschluss nirgends, nichts, das weiterwies. Ich hätte das sein können, aber ich verharrte in einer Art innerer Unschlüssigkeit. Wie Buridans Esel schwankte ich zwischen den 2 familiären Beziehungsheuhaufen. Da hing zu viel dran, was ich nicht überblickte, was über meinen Horizont ging. Entscheidung über Zugehörigkeit gar. Zwischen dem hermetischen Clan meiner Mutter und der Rueckwanderungssackgasse meines Vaters. Es fehlte alles, an dem man hätte ablesen können, wo sein Weg als rückgewanderter Sprössling Sinn machte. Eine Entscheidung von mir war Entscheidung zwischen 2 familiären Narrativen. Der Zusammenprall war am Hass ablesbar, der mir Vaternähe vorhielt. Es galt: Erstmal mich finden, sowieso und unbedingt.

Was mir vom Vater blieb, war der Trost vieler Fliehenden: Etwas neues wird kommen, auch, wenn nicht ersichtlich ist, was. Sinn-Spuren allenfalls im Rückspiegel. Ich bekam seine weitgehende Desorientierung mit. Wir fuhren mit einem Vorkriegsatlas in Hamburg umher und fanden die neugebaute S-Bahn zum Jungfernstieg nur aus Zufall, wie auch die Hotels.

Ziehe ich da was an den Haaren herbei? Eher nicht: Die Sorge für und der Verlust seiner Mutter, die einzige Familienangehörige in einem fremdgebliebenen Land, hatte ihn hilflos, ängstlich gemacht. Sein Zugang zu Deutschland kam über meine Mutter zustande, das liess sie ihn spüren.

Nun sind sie also wieder da: Die Russen von einst, die Untermenschen von einst, die Ukrainer von heute. Bilder wie im Film, Bilder im Kopf, die uns fixieren, die uns aber auch befreien. Schon, weil sie uns an unsern Blick damals erinnern und auch an den Blick, der diesen erwiderte.

Bloodlands, so genannt von Timothy Snyder, reicht vom Schwarzen Meer bis Sankt Petersburg. Die letzten Jahre meiner Oma Sophie (1870 ? 1940) standen im Schatten des ?Lebensraums im Osten', gefolgt von jahrelanger mörderischer Aushungerung ihrer Geburtsstadt St. Petersburg.


Was geschieht, wenn man die alten gegen die neuen Bilder hält? Was da geschieht, bildet sich aus der Differenz der Bilder, Fotos, Filmen, aus denen mich die Untermenschen von einst ansehen, und den Bildern, Fotos, Filmen, die die Ukrainer von heute zeigen. Die Bilder sind im Kopf, die Differenz zwischen ihnen auch. Weder das alte noch das neue Bild dominiert, sondern die Differenz aus zwei sich überschneidenden Bildern. Eine Differenz, sprachlich meist nicht definier- und formulierbar.

Wer es mit Bildern zu tun kriegt, z.B. Frauenbilder, der kennt das. Alte und neue Elemente überlappen sich gerade da, wo uns die Sprache dafür fehlt. Rein-Kultur-Bilder, die sich anbieten, erweisen sich als Kitsch oder Vor-Urteil und pure Destruktion am realen Menschen. Deshalb ist das Auftauchen der Ukrainer so eine grosse Chance für frühere Unter-wie Übermenschen.

Unter den Untermenschen rangierten auch ?Geisteskranke, Schwachsinnige, Lebensunwerte?, wie man sie nannte. So in den Augen der Übermenschen Juden Untermenschen waren, waren es auch Alte, Kranke und Schwache. Euthanasie durch Vergasen, in T4 Wagen getestet, wurde nach Stop der Aktion aus Angst vor Aufruhr seitens Hitlers Schergen gen Osten exportiert. Niemand hatte weniger Interesse, Unterschiede zu machen als Nazis, lebensunwert? reichte ihnen aus als Etikett.

Der Raum Europa umfasst auch die Ukraine. Russen von einst sind heute Ukrainer und Europäer.

Nur, wenn wir uns der Blicke, die wir sandten und die uns trafen gewahr bleiben, wird aus unserer Hilfe keine Überlegenheit, aus unserer Lockerheit kein Überspielen und aus Integration kein Vereinnahmen werden.

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Freitag, 9. September 2022
Queen Mum
genauer: Queen Mother.

Unsere Mütter waren es denn auch, die in Begeisterungsstuermen ihr zujubelten. Meine Mutter auch. Dann aber sich mit weiblichen Understatement doch zurückhaltend. Dynasty. Persönlichkeit in Kongruenz mit Empire. Welch mütterliches Herz geht da nicht auf!
Aber mit einem Schuss Zurückhaltung, die leicht als strafend wird empfunden. Genug gelobt.

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Mittwoch, 31. August 2022
Hans Christian Ströbele über pubertären Unsinn
>>Mein Vater hatte ein Auto, so einen Opel Rekord, und den habe ich dann erst nur in die Waschgarasche gefahren von zu Hause und dann auch mal zum Tanztee und so, und dabei ist es zu Schäden gekommen. Das stimmt, ja. Also mit Freunden war ich da immer unterwegs, und wir haben viel Unsinn angestellt, das stimmt.<<

Wenn aus einer Garage eine Garasche wird, dann muss schon künstliche Intelligenz im Spiel sein. Sonst käme es nicht zu solchem Unsinn.

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