Freitag, 24. Juli 2020
Demonstrativ

Ich war das letzte Jahr auf 3 grossen Demos (1x Flüchtlinge, 2x Fridays), so viel wie schon lange nicht mehr seit meiner Studentenzeit. Ich bin kein grosser Demonstrant. Es bleibt ein Rest von Unwohlsein bei mir. Ich bin es gezwungenermassen. Eine Art Ultima Ratio.

Der Inhalt meiner Existenz ist etwas anderes. Das, was man bürgerliche Existenz nennen kann. Leben, arbeiten, Beziehung. Existenz im engeren Wortsinn. Das, was auch der Flüchtling vor Augen hat: Sein Leben leben.

Die (politische) Demonstration ist das Gegenteil. Sie bringt den Widerstand auf einen Punkt, ein Motto. Wer das absolut setzt, gibt seinem Leben demonstrativen Charakter: Zu jedem Thema sind Statements, Credos abrufbar. Das berühmte Ein-Wort-Argument aus meinem vorigen Beitrag ist nicht weit. Es entspricht dem Button auf dem T-Shirt, dem erhobenen Schild auf der Demo. Der zum Trichter (wie der des Megaphons), geformte Mund nimmt das im Anschlag gehaltene (Demo-) Motto vorweg.

Durchgehalten, macht diese Reduktion unser Leben zu etwas Demonstrativem. Alles steht für etwas, weist auf etwas hin, (fast) nichts verweist auf mich, mein Für und Wider, meinen durchaus differenzierten, sprich erklärungsbedürftigen, Standpunkt. Dabei ist der doch das Ziel. Ich reduziere mich auf meine Rolle als Demonstrant und statt fruchtbarem Land tut sich vor meinen Augen eine unübersehbare Menge von Menschen auf, die Gleiches und Ähnliches skandieren wie ich.

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Mittwoch, 22. Juli 2020
An der Grenze zum Irrtum liegt die Angst.
Über Anne Carson im Dlf 22.07.20:
„An der Grenze zum Irrtum liegt die Angst. Inmitten eines Irrtums herrschen Torheit und Niederlage. Den eigenen Irrtum zu erkennen verursacht Scham und Schuldgefühle. Wirklich?“

I.
Soweit Anne Carson. Ich kenne Carson nicht. Ich lasse mich von ihren Worten erreichen. Ich reisse sie aus dem Zusammenhang und platziere sie in meinem.

Angst sich zu irren. In seinem Urteil falsch zu liegen. Positiv wie negativ. Sich deshalb zurückzuziehen in die eigene Unsicherheit und Schuldgefühle. Ich folge Carson.

Diese in meinen Zusammenhang hineingenommenen Sätze charakterisieren nun mein Schuldgefühl und meine Unsicherheit im Verhältnis zu meiner Vergangenheit, der meines Vaters, der meiner Mutter. Ein eindeutiges Statement, Gewissheit, ein eindeutiges Urteil könnte mir Sicherheit geben und die Angst nehmen. „Wirklich“!

In Reih und Glied marschieren die Argumente contra so wie sie vorher pro marschierten. Die Ordnung ist (wieder) hergestellt. Eine Ordnung, die nicht selten genauso geschlossen und unduldsam ist wie die Ordnung davor.

Mit der Angst leben, wäre auch eine Möglichkeit. Die Angst zu erleiden. Mit der Angst kehre ich zurück in mein Leben.

“Wo die glatte Oberfläche der Wörter brüchig wird“ heißt es in den ersten Sätzen der Charakterisierung Carsons unter halb der Überschrift.

Das Schlüsselwort heisst Grenze. An einer Grenze schaut man in beide Richtungen. Viel Raum für Angst. Angst vor dieser Seite, Angst vor der anderen Seite, Angst sich zu irren. Ich hab selten so einfühlsame Worte über die Angst gelesen. Angst hat der, der die Grenze im Kopf und damit vor Augen hat. Nicht mal der, er die Grenze überschritten hat.

II. So wie mich Worte aus einem anderen Zusammenhang erreichen und das Unterste zuoberst kehren, so kann das berühmt-berüchtigte Ein-Wort-Argument, am besten in Form eines Namens, alles auf den Kopf oder auf die Füsse stellen, zumindest aber die Gegenüber zum Schweigen bringen, wie es im positiven Fall diese zum Denken/Reden gebracht hat. Auf das Argument Solschenizyn (Gulag) folgt dann das Argument Truman (Hiroshima, Nagasaki) und schon ist das Maul gestopft. Unsere Gegenwart ist voller Ein-Wort-Argumentation. Sie ist der Vorläufer
der Hass-Rede, in der der Hass das wichtigste ist. Ein Wort reicht.

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Mittwoch, 8. Juli 2020
Stoff-Festigung: Bildung (s.o.) in Stichworten
Bildung in Geschichte und Gegenwart :

A Bildung in persönlichen Machtverhältnissen und Beziehungen (Familie-Clan-Horde)

B Bildung in Institutionen Akademien, Universitäten, Schulen (abh. v. Stand, Geschlecht)

C Bildung bezogen auf den Bildungsgegenstand (Sprache, Wissenschaft, Tätigkeit)

Gleichheit wird durch alledem nicht erreicht.

Der Fall a umfasst in unseren Breiten die Zeit bis einschliesslich zum Mittelalter.

Der Fall b reicht ca.vom Mittelalter bis zur Neuzeit (Napoleon).

Der Fall c beschreibt das moderne Bildungssystem mit seinem hohen Teil an fachlicher und sachlicher Verallgemeinerung, die gesellschaftliche Struktur nicht aufbrechen kann.

Gleichheit ist Voraussetzung für gleiche Bildung und nicht ihr Resultat.

- Heute nimmt die familiaere Orientierung der Bildung ab
- ebenso wie die Orientierung innerhalb Stamm oder Adel

es nimmt dagegen Bildung in übergreifenden Systemen mit einem standardisiertem Bildungskatalog zu.

Dass Gleichheit in Inhalten und Systemen Gleichheit unter den Sich-Bildenden befördert, ist das dazugehörige Missverständnis.

Bildung ist heute weniger persönlich (höchstens an Individuen), auch nicht an Bildungsgegenstände gebundenes, sondern
hat einen fliessenden Charakter, lebt in und aus der Kombination von Inhalten, Methoden, Beziehungen.

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