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Mittwoch, 30. Januar 2019
I. Let it be, let it be, let it be
kuehnesmallworld, 13:06h
Analoge & digitale Beispiele (s.u.) für nachhaltige statt nur disruptive Innovation. Die Serie wird fortgesetzt.
1. Der Natur folgend nachhaltige Kommunikation anstossen:
Erstes Let it be is die Babybe-Matratze, eine Gelmatte, verbunden mit einer Matte im Inkubator. Babybe ist eine Gelmatte in Form einer Schildkröte, die auf dem Bauch der Mutter liegt und den Herzschlag, den Atem der Mutter, überträgt, genauso, wenn sie spricht, singt oder vorliest.
Das ist doch mal eine gelungene Kombination von Analog und Digital! Herzschlag, Atem, die Stimme, das alles ist analog. Die Übertragung aber ist digital. Und: Die Erfindung ist eine echte Innovation, eine Innovation, die nicht einfach beschleunigt oder technisiert. Ein Bruch im Denken ist nötig, ein Perspektiven-Wechsel. Mutter und Kind sind hier keine natürliche Einheit. Der Blick auf beide nimmt sie nicht gemeinsam wahr sondern wandert von der Mutter zum Kind, vom Kind zur Mutter. Er kommt einmal aus der Richtung Kind und einmal aus der Richtung Mutter. Das heisst: Die Technik ist mehr als ein Transportmittel. Die Perspektive ändert sich, der Blick auf das, was verbindet: die elektronische „Nabelschnur“.
2. Durch Technik Sehgewohnheiten nachhaltig beeinflussen:
"Dann nimmt man die Kamera hoch, korrigiert das Motiv noch mal. Man muss sich limitieren, man hat ja nur 36 Aufnahmen. Diese Selektion, die da stattfindet, das ist einfach eine andere Art, den Workflow zu organisieren."
Mirko Böddecker über die Rückkehr der analogen Fotografie, zit. nach DLF Nova vom 25.1.19 .
Wir haben richtig gelesen: Die Sehgewohnheiten ändern sich. Und das auch noch durch eine Technologie von gestern: Das Treffen der Auswahl, die Entscheidung für genau dieses Bild ist der Rubikon, den man ueberschreiten muss. Ein Schritt, der dann auch zeigt, was überschritten wurde in Richtung digital. Kaum merkbar überschritten, automantisch überschritten: Die Entscheidung, die Einmaligkeit wurde überschritten. Der Schritt zurück, der sehr populäre Schritt zurück, ist keine Nostalgie, es ist ein Zurück zur Entscheidung. Die Serie, die die digitale Fotografie (im Übergang zum Video) produziert, macht Bild für Bild winzige Unterschiede sichtbar, die allerdings höchstens eine Optimierung ermöglichen, d.h. eine mehr intuitive Entscheidung für das „beste“ Bild. Dabei geht es letztlich um die Wahrnehmung der Welt.
3. Digitale Marktforschung veranschaulicht Emotionen:
„Menschen hören über Kultur- und Ländergrenzen hinweg abends eher entspannende Musik. Tagsüber bevorzugen sie energiegeladene Stücke".
Das ist eines der Ergebnisse einer breit angelegten Studie der US-amerikanischen Cornell-Universität über Hörgewohnheiten von Musikfans in aller Welt. Sie gingen unter anderem der Frage nach, ob und inwiefern Lieder Gefühle beeinflussen und ob wir gezielt Musik auswählen, die zu unserer Stimmung passt.
Die Forscher untersuchten 765 Millionen Musikstücke, die von fast einer Million Menschen aus 51 Ländern auf der Plattform „Spotify“ gestreamt wurden, um stündliche, tägliche und saisonale Muster zu identifizieren. Und sie stellten fest, dass es trotz einiger Gemeinsamkeiten auch deutliche regionale Unterschiede gibt. So wählten Menschen in Asien eher entspannende Musik, Hörer in Lateinamerika hingegen mehrheitlich anregende Stücke.
Generell hören der Analyse zufolge vor allem jüngere Menschen intensivere Musik als ältere. Alles in allem kann allerdings auch die aktuelle Studie nicht stichhaltig beantworten, ob Musik unsere Emotionen beeinflusst oder wir Musik auswählen, die zu unserer Gemütslage passt – wahrscheinlich sei ein Wechselspiel beider Ansätze, so die Autoren.“ (Zit Nach DLF 24.01.19.)
Immerhin turnt die Untersuchung kleinteiligere, persönlichere Studien an, die ohne digitales Messtechnik unterblieben wären.
Vor allem aber haben Sie einen Effekt, dass sie durch qualitative Statistik und digitale Messinstrumente (Aussen) auf das Faktum der emotionalen Gemütslage (Innen) hinweist.
4. Aussen und Innen nachhaltig zugänglich machen:
Das liest sich als hätte Paul Valerie das kommentiert: Der Mensch, ein „Doppelwesen, worin innen und außen zwei getrennte, unabhängige, einander nahezu indifferente Leben führen“ (zit. nach: Der gesellige Einzelgänger Valéry. Eine Biografie von Denis Bertholet von Regina Roßbach).
"Gemütslage" ist individuell und nicht zuverlässig messbar. Messbar sind die Streamingzahlen. Und zwar direkt, nicht etwa nach Selbstaussage. Das ist das digital messbare Aussen: Dem Aussen tritt das Innen der Gemütslage entgegen. Eine eigene Wirklichkeit, die eigener Messung und Bewertung bedarf. Dies ist ein Beispiel für das Verhältnis zwischen beiden Dimensionen. Dass das Innere tw. auch messbar (z.B. chemische Reaktionen), ist, tut der Verschiedenheit keinen Abbruch. Ein neues Verstehen von Innen und Aussen bahnt sich an. Eines, das beides ist: Korrespondierend und eigenständig.
5. Wie wär ein nachhaltiger Seitensprung aus der Schablone?
Wolfgang Lettl, ein aus der Zeit gefallener surrealistischer Maler, stellt in seinem Bild Lebenslauf einen Mann dar, der aus seinem Bild, besser seiner Schablone, springt. Er wird dabei plastisch und mehrdimensional, wendet sich aber beim Sprung von uns ab.
Mit der Vinyl-Schallplatte liegt der Fall kaum anders: Die Haptik, das Visuelle, das Fühlbare tritt hervor, ungeachtet der Perfektion, die nicht auf dem neuesten Stand ist. Eine Dimension, die man so garnicht mehr auf der Rechnung hat, die aber ein Bedürfnis erfüllt.
Nicht die Nostalgie ist der "springende Punkt", sondern eine neu und wieder auftauchende Dimension der Wirklichkeit.
6. Nachhaltig den Weg ins Heute finden:
Die vollmundige Worthülse "Zukunft" braucht dringend Inhalt.
Ich selbst stehe z.B. vor der Frage: Denke ich in "Listen" oder in Einzelvorgängen? Das ist keine Frage nur der Herangehensweise. Mein Metier: Marketing, Interessentenansprache, Kommunikation. Meine Situation: Jeder Kommunikationsvorgang nimmt Listen-Charakter an. Ungewollt scrolle ich bei der Arbeit die Liste hoch und runter. Dabei wird die Kommunikation blind, verliert ihre Farbe, ihr Leben.
Das muss nicht so sein, ist aber so, weil der Kommunikator und der Kontrollator zwei verschiedene Typen sind, die ihr Augenmerk auf verschiedene Merkmale richten. Der Kontrollator auf bereits abstrahierte Daten. Der Kommunikator auf die Äusserung des Gegenübers, auf den Dialog, dazu zählt auch der eigene Part. Jeder Einfall, jeder Tonfall, jede Stimmung zählt. Und bei der Reaktion des Gegenübers ist es genauso.
1. Der Natur folgend nachhaltige Kommunikation anstossen:
Erstes Let it be is die Babybe-Matratze, eine Gelmatte, verbunden mit einer Matte im Inkubator. Babybe ist eine Gelmatte in Form einer Schildkröte, die auf dem Bauch der Mutter liegt und den Herzschlag, den Atem der Mutter, überträgt, genauso, wenn sie spricht, singt oder vorliest.
Das ist doch mal eine gelungene Kombination von Analog und Digital! Herzschlag, Atem, die Stimme, das alles ist analog. Die Übertragung aber ist digital. Und: Die Erfindung ist eine echte Innovation, eine Innovation, die nicht einfach beschleunigt oder technisiert. Ein Bruch im Denken ist nötig, ein Perspektiven-Wechsel. Mutter und Kind sind hier keine natürliche Einheit. Der Blick auf beide nimmt sie nicht gemeinsam wahr sondern wandert von der Mutter zum Kind, vom Kind zur Mutter. Er kommt einmal aus der Richtung Kind und einmal aus der Richtung Mutter. Das heisst: Die Technik ist mehr als ein Transportmittel. Die Perspektive ändert sich, der Blick auf das, was verbindet: die elektronische „Nabelschnur“.
2. Durch Technik Sehgewohnheiten nachhaltig beeinflussen:
"Dann nimmt man die Kamera hoch, korrigiert das Motiv noch mal. Man muss sich limitieren, man hat ja nur 36 Aufnahmen. Diese Selektion, die da stattfindet, das ist einfach eine andere Art, den Workflow zu organisieren."
Mirko Böddecker über die Rückkehr der analogen Fotografie, zit. nach DLF Nova vom 25.1.19 .
Wir haben richtig gelesen: Die Sehgewohnheiten ändern sich. Und das auch noch durch eine Technologie von gestern: Das Treffen der Auswahl, die Entscheidung für genau dieses Bild ist der Rubikon, den man ueberschreiten muss. Ein Schritt, der dann auch zeigt, was überschritten wurde in Richtung digital. Kaum merkbar überschritten, automantisch überschritten: Die Entscheidung, die Einmaligkeit wurde überschritten. Der Schritt zurück, der sehr populäre Schritt zurück, ist keine Nostalgie, es ist ein Zurück zur Entscheidung. Die Serie, die die digitale Fotografie (im Übergang zum Video) produziert, macht Bild für Bild winzige Unterschiede sichtbar, die allerdings höchstens eine Optimierung ermöglichen, d.h. eine mehr intuitive Entscheidung für das „beste“ Bild. Dabei geht es letztlich um die Wahrnehmung der Welt.
3. Digitale Marktforschung veranschaulicht Emotionen:
„Menschen hören über Kultur- und Ländergrenzen hinweg abends eher entspannende Musik. Tagsüber bevorzugen sie energiegeladene Stücke".
Das ist eines der Ergebnisse einer breit angelegten Studie der US-amerikanischen Cornell-Universität über Hörgewohnheiten von Musikfans in aller Welt. Sie gingen unter anderem der Frage nach, ob und inwiefern Lieder Gefühle beeinflussen und ob wir gezielt Musik auswählen, die zu unserer Stimmung passt.
Die Forscher untersuchten 765 Millionen Musikstücke, die von fast einer Million Menschen aus 51 Ländern auf der Plattform „Spotify“ gestreamt wurden, um stündliche, tägliche und saisonale Muster zu identifizieren. Und sie stellten fest, dass es trotz einiger Gemeinsamkeiten auch deutliche regionale Unterschiede gibt. So wählten Menschen in Asien eher entspannende Musik, Hörer in Lateinamerika hingegen mehrheitlich anregende Stücke.
Generell hören der Analyse zufolge vor allem jüngere Menschen intensivere Musik als ältere. Alles in allem kann allerdings auch die aktuelle Studie nicht stichhaltig beantworten, ob Musik unsere Emotionen beeinflusst oder wir Musik auswählen, die zu unserer Gemütslage passt – wahrscheinlich sei ein Wechselspiel beider Ansätze, so die Autoren.“ (Zit Nach DLF 24.01.19.)
Immerhin turnt die Untersuchung kleinteiligere, persönlichere Studien an, die ohne digitales Messtechnik unterblieben wären.
Vor allem aber haben Sie einen Effekt, dass sie durch qualitative Statistik und digitale Messinstrumente (Aussen) auf das Faktum der emotionalen Gemütslage (Innen) hinweist.
4. Aussen und Innen nachhaltig zugänglich machen:
Das liest sich als hätte Paul Valerie das kommentiert: Der Mensch, ein „Doppelwesen, worin innen und außen zwei getrennte, unabhängige, einander nahezu indifferente Leben führen“ (zit. nach: Der gesellige Einzelgänger Valéry. Eine Biografie von Denis Bertholet von Regina Roßbach).
"Gemütslage" ist individuell und nicht zuverlässig messbar. Messbar sind die Streamingzahlen. Und zwar direkt, nicht etwa nach Selbstaussage. Das ist das digital messbare Aussen: Dem Aussen tritt das Innen der Gemütslage entgegen. Eine eigene Wirklichkeit, die eigener Messung und Bewertung bedarf. Dies ist ein Beispiel für das Verhältnis zwischen beiden Dimensionen. Dass das Innere tw. auch messbar (z.B. chemische Reaktionen), ist, tut der Verschiedenheit keinen Abbruch. Ein neues Verstehen von Innen und Aussen bahnt sich an. Eines, das beides ist: Korrespondierend und eigenständig.
5. Wie wär ein nachhaltiger Seitensprung aus der Schablone?
Wolfgang Lettl, ein aus der Zeit gefallener surrealistischer Maler, stellt in seinem Bild Lebenslauf einen Mann dar, der aus seinem Bild, besser seiner Schablone, springt. Er wird dabei plastisch und mehrdimensional, wendet sich aber beim Sprung von uns ab.
Mit der Vinyl-Schallplatte liegt der Fall kaum anders: Die Haptik, das Visuelle, das Fühlbare tritt hervor, ungeachtet der Perfektion, die nicht auf dem neuesten Stand ist. Eine Dimension, die man so garnicht mehr auf der Rechnung hat, die aber ein Bedürfnis erfüllt.
Nicht die Nostalgie ist der "springende Punkt", sondern eine neu und wieder auftauchende Dimension der Wirklichkeit.
6. Nachhaltig den Weg ins Heute finden:
Die vollmundige Worthülse "Zukunft" braucht dringend Inhalt.
Ich selbst stehe z.B. vor der Frage: Denke ich in "Listen" oder in Einzelvorgängen? Das ist keine Frage nur der Herangehensweise. Mein Metier: Marketing, Interessentenansprache, Kommunikation. Meine Situation: Jeder Kommunikationsvorgang nimmt Listen-Charakter an. Ungewollt scrolle ich bei der Arbeit die Liste hoch und runter. Dabei wird die Kommunikation blind, verliert ihre Farbe, ihr Leben.
Das muss nicht so sein, ist aber so, weil der Kommunikator und der Kontrollator zwei verschiedene Typen sind, die ihr Augenmerk auf verschiedene Merkmale richten. Der Kontrollator auf bereits abstrahierte Daten. Der Kommunikator auf die Äusserung des Gegenübers, auf den Dialog, dazu zählt auch der eigene Part. Jeder Einfall, jeder Tonfall, jede Stimmung zählt. Und bei der Reaktion des Gegenübers ist es genauso.
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Montag, 28. Januar 2019
Paul Valery - ein erratischer Denker
kuehnesmallworld, 17:58h
In Zeiten, in denen wir vor lauter künstlicher Intelligenz vergessen, dass sich diese an der Intelligenz höchstselbst orientiert, sei ein Seitenblick auf den erratischen Denker Paul Valery gestattet. Erratisch, da ohne Vorbild, erratisch, da für sich stehend. Wie ein Felsblock, den die tektonische Bewegung weit weg ins Terrain verschoben hat. Zitate: Bertolet s.u.
„Schon in seiner Kindheit entwickelt Valéry ein „Doppelwesen, worin innen und außen zwei getrennte, unabhängige, einander nahezu indifferente Leben führen“. Fassbar wird das an seiner Scheu, Privates öffentlich zu machen. Alles Emotionale scheint ihm banal und wird seinem schon früh begonnenen Lebensprojekt untergeordnet: die Fähigkeiten des Intellekts, die Schönheit des Denkens in all ihren Nuancen zu erproben und auszureizen. Spätestens seit der als „Nacht von Genua“ bekannt gewordenen Persönlichkeitskrise von 1892, die ihn für fast zwanzig Jahre von der Dichtung Abschied nehmen lässt, ist absolute Rationalität zu seiner existentiellen Leitformel geworden.
Am deutlichsten wird dieses Lebenskonzept wohl an der Akribie, mit der er ab 1894 tagtäglich in den Morgenstunden seine berühmten „Cahiers“ verfasst, in die er Gedankenfetzen, Reflexionen wissenschaftlicher und philosophischer Art einträgt. Es ist ein immer weiter sich ausdehnendes Projekt, das am Ende seines Lebens fast 28.000 Seiten umfasst: eine „Wüste von Wörtern“, wie er selbst sagt. Schwer einzuschätzen, ob den „Cahiers“ bei Bertholet zu viel Raum eingeräumt wird, wie Jürgen Schmidt-Radefeldt in seinem Vorwort zu Bedenken gibt. Jedenfalls beginnt der „papierne Doppelgänger“ irgendwann ein Eigenleben zu entwickeln, das für Valéry Fluch und Segen zugleich bedeutet. Wenn er auch bei vielen seiner späteren Essays und Gedichte – mit 42 kehrt er zur Literatur zurück – aus dem Fundus der „Cahiers“ schöpfen kann, scheitern all seine Versuche, die Notizen durch Klassifizierung beherrschbar zu machen.
Er gibt sich geschlagen. Er wird dieses Mammutprojekt des Geistes zu Lebzeiten nicht abschließen. Ähnlich ergeht es ihm in anderen Bereichen. Wenn er versucht, auch sein Ego zu rationalisieren und zu begrenzen, gelingt das nicht auf ganzer Linie, wie Bertholet zeigt. Immer wieder wird er von psychischen Krisen und Krankheiten geschüttelt, lässt sich auf schwierige Liebesaffären ein und scheint mehrmals am Ende seiner Kräfte.
Dennoch sind seine intellektuellen Leistungen immens. Sein Interesse an Konstruktion und Struktur entsteht an Kunst und Architektur und lässt ihn später die Schönheit von Mathematik und Naturwissenschaften entdecken. Als Zeitgenosse von Einstein und Marie Curie bringt er die Logik der Naturwissenschaft in die Dichtung, bleibt immer mehr an der Technik als am Thema interessiert. Romane findet er trivial. Seine großen poetologischen Schriften und Vorträge betonen den Vorgang des Entstehens, nicht das fertige Werk. So gab es wohl nur wenige Autoren, die ihrer eigenen Zunft so kritisch gegenüberstanden wie Valéry: „Dichter ohne Dichtung, antiphilosophischer Philosoph, jetzt auch noch schreibender Nichtschriftsteller: Das macht zusammen eine Menge Paradoxe, aber so ist Valéry nun einmal“, schreibt Bertholet.
Man hat ihm vorgeworfen, dass er immer mehrere Tätigkeiten parallel verfolgt und dabei keine mit vollem Einsatz. Von einem Freund erfährt er, dass man ihn als Versager bezeichnet. Tatsächlich fällt es schwer, ihn einem Berufsbild zuzuordnen. Nach seinem Jurastudium veröffentlicht er Verschiedenes, ist im Staatsministerium tätig, dann langjähriger Privatsekretär von Édouard Lebey, dem Gründer der Presseagentur Havas. Immer verkehrt er in den besten Kreisen: Unter Intellektuellen, Wissenschaftlern, Künstlern, Politikern.
Der gesellige Einzelgänger Valéry“: eine Biografie von Denis Bertholet von Regina Roßbach
Sowie: Ich grase meine Gehirnwiese ab. Aus den Cahiers.
Fischer Tb
In Zeiten, in denen die Philosophie und die Sozialwisenschaften brüchig werden und in zählbare und statistikfreundliche Einzelteile auseinanderfallen, hat der erratische oder auch eklektische Denker Konjunktur.
„Schon in seiner Kindheit entwickelt Valéry ein „Doppelwesen, worin innen und außen zwei getrennte, unabhängige, einander nahezu indifferente Leben führen“. Fassbar wird das an seiner Scheu, Privates öffentlich zu machen. Alles Emotionale scheint ihm banal und wird seinem schon früh begonnenen Lebensprojekt untergeordnet: die Fähigkeiten des Intellekts, die Schönheit des Denkens in all ihren Nuancen zu erproben und auszureizen. Spätestens seit der als „Nacht von Genua“ bekannt gewordenen Persönlichkeitskrise von 1892, die ihn für fast zwanzig Jahre von der Dichtung Abschied nehmen lässt, ist absolute Rationalität zu seiner existentiellen Leitformel geworden.
Am deutlichsten wird dieses Lebenskonzept wohl an der Akribie, mit der er ab 1894 tagtäglich in den Morgenstunden seine berühmten „Cahiers“ verfasst, in die er Gedankenfetzen, Reflexionen wissenschaftlicher und philosophischer Art einträgt. Es ist ein immer weiter sich ausdehnendes Projekt, das am Ende seines Lebens fast 28.000 Seiten umfasst: eine „Wüste von Wörtern“, wie er selbst sagt. Schwer einzuschätzen, ob den „Cahiers“ bei Bertholet zu viel Raum eingeräumt wird, wie Jürgen Schmidt-Radefeldt in seinem Vorwort zu Bedenken gibt. Jedenfalls beginnt der „papierne Doppelgänger“ irgendwann ein Eigenleben zu entwickeln, das für Valéry Fluch und Segen zugleich bedeutet. Wenn er auch bei vielen seiner späteren Essays und Gedichte – mit 42 kehrt er zur Literatur zurück – aus dem Fundus der „Cahiers“ schöpfen kann, scheitern all seine Versuche, die Notizen durch Klassifizierung beherrschbar zu machen.
Er gibt sich geschlagen. Er wird dieses Mammutprojekt des Geistes zu Lebzeiten nicht abschließen. Ähnlich ergeht es ihm in anderen Bereichen. Wenn er versucht, auch sein Ego zu rationalisieren und zu begrenzen, gelingt das nicht auf ganzer Linie, wie Bertholet zeigt. Immer wieder wird er von psychischen Krisen und Krankheiten geschüttelt, lässt sich auf schwierige Liebesaffären ein und scheint mehrmals am Ende seiner Kräfte.
Dennoch sind seine intellektuellen Leistungen immens. Sein Interesse an Konstruktion und Struktur entsteht an Kunst und Architektur und lässt ihn später die Schönheit von Mathematik und Naturwissenschaften entdecken. Als Zeitgenosse von Einstein und Marie Curie bringt er die Logik der Naturwissenschaft in die Dichtung, bleibt immer mehr an der Technik als am Thema interessiert. Romane findet er trivial. Seine großen poetologischen Schriften und Vorträge betonen den Vorgang des Entstehens, nicht das fertige Werk. So gab es wohl nur wenige Autoren, die ihrer eigenen Zunft so kritisch gegenüberstanden wie Valéry: „Dichter ohne Dichtung, antiphilosophischer Philosoph, jetzt auch noch schreibender Nichtschriftsteller: Das macht zusammen eine Menge Paradoxe, aber so ist Valéry nun einmal“, schreibt Bertholet.
Man hat ihm vorgeworfen, dass er immer mehrere Tätigkeiten parallel verfolgt und dabei keine mit vollem Einsatz. Von einem Freund erfährt er, dass man ihn als Versager bezeichnet. Tatsächlich fällt es schwer, ihn einem Berufsbild zuzuordnen. Nach seinem Jurastudium veröffentlicht er Verschiedenes, ist im Staatsministerium tätig, dann langjähriger Privatsekretär von Édouard Lebey, dem Gründer der Presseagentur Havas. Immer verkehrt er in den besten Kreisen: Unter Intellektuellen, Wissenschaftlern, Künstlern, Politikern.
Der gesellige Einzelgänger Valéry“: eine Biografie von Denis Bertholet von Regina Roßbach
Sowie: Ich grase meine Gehirnwiese ab. Aus den Cahiers.
Fischer Tb
In Zeiten, in denen die Philosophie und die Sozialwisenschaften brüchig werden und in zählbare und statistikfreundliche Einzelteile auseinanderfallen, hat der erratische oder auch eklektische Denker Konjunktur.
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Montag, 21. Januar 2019
Anders sein statt Neu-sein
kuehnesmallworld, 17:58h
Neu sind heute alle. Täglich, dauernd, ständig. Bis einem die Mimikry des Modern-, des Up-to-date-Seins zum Hals raus hängt und man nicht mehr weiss, was zu modernisieren wäre. Und ich mich vorsichtshalber auf garnichts mehr festlege. Oder mich taub stelle und bockig werde. Sie müssen ja keine Rechenschaft ablegen, die Dauermodernisierer. Anders statt neu sein wäre eine prima Alternative. So weit war ich gekommen. So war ich auch bei meiner Selbsterforschung gekommen, als ich mich erinnerte an das, was mir zu Ohren gekommen war kürzlich.
Ich hatte nämlich noch ein Hörstück im Ohr, ein Hörstück von Martin Becker und Tabea Soergel namens „Besonders sein“. Einzelne Sätze und Sequenzen meinte ich noch in mir nachklingen zu hören. Vor kurzem, am 20.01.2019 war es über den Sender gegangen. Der Sender war der Dlf.
- „Aufsehenerregende Kostüme tragen“,
- „Ecken und Kanten haben“,
-„In sich selbst das Einmalige entdecken“,
das sind verschiedene Formen Anders-sein.
Sehr oft gehen wir dabei, ob es uns passt oder nicht, vom Außeren aus, eilen meine Gedanken voraus: Die Turnschuhe von Joschka Fischer. Das Feuermal von Michail Gorbatschow. Der gelbe Pullunder von Hans-Dietrich Genscher.Schon das kleine Kind, das den Bartträger anfremdelt, tut es.
Manche sagen es einfacher, fassen inneres und ausseres Erleben zusammen: „Ich denke mal einfach, man geht mit Leib und Seele an eine Sache, und man mag's oder man mag's nicht."
Also: Hineinpassen in die Zielgruppe, das Ambiente. Die Kriterien erfüllen, das ist die erste Bewegung, auf das Besondere, das Andere zu.
FRANK GOOSEN, der Schriftsteller (Liegen lernen, Frankfurt 2000) soll das so gesagt haben: "Es gibt ein Bild, das man sich von einer Gegend, von einem Menschenschlag macht, und dann gibt es Einzelne, die dem so genau entsprechen, dass man sie als Originale bezeichnet."
Ergo lässt sich zusammenfassen: Das Rezept für ein echtes Original kann man nirgendwo nachschlagen. Man muss es in sich finden. Es ist eine Bewegung auf das Neue hin und eine, die einem
aus der Vorstellung, die man hat, entgegenspringt.
„Vielleicht wird man ja gar nicht als Original geboren, sondern wächst einfach in die Rolle hinein. Zum Beispiel durch den passenden Beruf, das richtige Ambiente, das geeignete Umfeld“ mutmassen andere deutlich hörbar.
In sich finden nennen das die einen, „Selbsterfinder“ nennen die anderen das Genie, Orginal. Jemand gibt zu bedenken:„Vielleicht hat man ja auch gar keine andere Wahl: Man macht aus dem, was einem das Leben mitgegeben hat, das Beste.“ Wenn man nun denkt, da müsse ein Vivaldi und Mozart das Licht der Welt erblicken, dann irrt man, die Zutaten dürfen viel profaner sein, z.B. ein looses Mundwerk, ein rüder Ton usw., Gossen Reichtum oder sozialer Status brauchts nicht. „Es genügt eine Abweichung von der Norm. Eine Auffälligkeit. Eine Macke, die nicht alle haben. Etwas zu laut oder etwas zu leise reden, etwas zu forsch oder etwas zu unbeholfen den Raum betreten, eine Spur zu bunte und zu geschmacklose Kleidung tragen - und schon wird die Originalität zum Selbstläufer. Und schon ist man anders als der Rest.“
Darin ähnelt der Unterhaltungsroman-Autor Frank Goosen von heute dem Philosoph und Selbstdenker Paul Valery von gestern (1970-1945, einem erratischen Block aus Philosoph, Poetik und Naturwissenschaftler, ein Genie, aber vor allem ein passionierter Selbstdenker, der 50 Jahre lang Tag um Tag die Gedanken seine Selbst-Erforschung und Introspektion 1-2 Stunden lang in seine Hefte schrieb und sie dann verbarg. „Man soll nur an das glauben, was man selbst erfunden hätte“ notierte er (Paul Valery, Ich grase meine Gehirnwiese ab, Frankfurt 2016).
In Zeiten von Influenzern und Testimonials, von Followern und Mee-Toos ist das ein bemerkenswerter Satz. Einerseits: Blind fast , doch nach Aussen spähend, sein Ziel ins Auge fassend, sich durch nichts davon abbringen lassen. Andererseits: Besondere Andere, verehrt und bewundert. Wie kommt man da raus, aus der Klemme zwischen eingerahmt sein und im Mittelpunkt stehen?
Wie so oft: Als Künstler oder Kreativer. "Ein Künstler hat Originalität, wenn er frei aus der Ursprünglichkeit seines eignen Genius schafft. Im engern Sinne versteht man dann unter Originalität auch das durch seine Eigentümlichkeit vom Allgemeinen Abweichende, Überraschende, Seltsame und Wunderliche."
So erklärt sich das fast schon innige Verhältnis zwischen IT, der Informationstechnologie, und der Kunst. Was der IT ausgetrieben wurde, ist in der Kunst zu suchen und zu finden, und zwar geballt. Linke und rechte Gehirnhälfte marschieren getrennt.
Was an Gemeinsamkeiten noch da ist, wird durch Sprache und Stimme gemeinsam transportiert. Ich höre, wenn auch arg verrauscht: „Wo die Logopäden eher dazu neigen würden zu sagen: Der muss aber mal so ein bisschen sich entspannen, oder: Der knödelt, oder, na ja, eben zu rauchig, zu verhaucht, das sind eigentlich genau die Aspekte. Also alles, was als Störung empfunden wird, ist eigentlich spannend."
Stimme und Sprache transportieren sowohl das Kreative, Analoge als auch das Digitale, den Sachverhalt. „Jedes Produkt braucht eine Stimme, die klingt wie keine zweite.“ Und nach einer Weile ist weiter zu hören: „Das ist ein Mensch, der hat das alles so in sich, dass er sein Potenzial komplett einsetzen kann, und in der Stimme ist es dann hörbar." Nach einer weiteren Weile höre ich, wenn auch immer noch nicht ganz kristallklar, wieder etwas: "(...) Es soll nicht bekannt klingen, es soll nicht werblich klingen, es soll nicht, es muss anders sein. Und am Ende ist aber das Ohr, sind die Hörgewohnheiten doch sehr konventionell infiltriert. D.h. also, das andere ist eben im Grunde genommen nur eine kleine Breite davon entfernt davon, was erlaubt ist."
Eine kleine Breite, soll wohl heissen: eine minimale Abweichung reicht. Vielleicht eine noch nicht einmal hörbare Abweichung. Eine grosse Aufgabe für ein unbeachtetes Organ, ist unser Verstehen doch meist an Inhalte gebunden.
Summa: "Original und originell bedeuten ursprünglich, nicht nachgeahmt, folglich auch echt und unverfälscht; nennt man daher einen Gegenstand ein Original, so heisst das, er sei nicht durch Nachahmung, Überarbeitung oder Kopieren eines andern entstanden."Besser verlispelt, verfistelt, verstottert als überhört.
Manche mögens noch penibler: "Auch Menschen werden Originale genannt, wenn sie sich durch Originalität ihrer Denkungsart oder ihres Benehmens auf eigentümliche und auffallende Weise vom Gewöhnlichen entfernen..."
Was passiert da? Ich bin ganz Ohr: „Ecken und Kanten vergrössern die Reibungsfläche, gerade auch in der Politik. Je eigenwilliger der persönliche Stil, desto grösser die Widerstände, gegen die man sich tagtäglich durchsetzen muss.“ So rum, nicht andersrum wird ein Schuh draus.
Aber ein Schuh mit „Abstand, Humor und auch ein bisschen Selbstironie“ denn wir befinden uns auf spleenigem, ja bizarren Felde, für das im Extrem nur in der Psychiatrie noch Raum ist. Man hat den Eindruck, manche flüchten sich geradezu dahin.
Wir hören Anna Basener: "Ich glaube, ein Original muss besonders sein in dem Sinne, dass es nicht in der Masse untergeht - und vielleicht auch besonders in dem Sinne, dass es nicht glatt ist, dass es nicht schön ist - sondern irgendwas hat, was provoziert, was so eine kleine Ecke ist, was Kanten sind, was anders ist - was vielleicht sogar den Mainstream ein bisschen stört." Einen an der Waffel haben – könnte man es so sagen?
Anna Basener ist Expertin für Originale und Orginelles, erfahre ich, wenn ich weiter frage. In Essen geboren, Kulturwissenschaftlerin. „Anna Basener hat die Omma gross gemacht. Ein Begriff, der schon längst nicht mehr nur eine Grossmutter an sich meint. Omma ist ein feststehender Ausdruck.“ Wer in Essen geboren ist, ist schon ganz nah dran am Orginal, in diesem Fall am Arbeiter. Orginal-Ton Basener:
"Jeder aus dieser Welt, aus dieser Arbeiterwelt hat so eine Omma.“ Harpe Kerkeling hatte zwei Omileins, denen verdanken wir den Hannilein. Das war der letzte Zahn, der uns gezogen wurde: Arbeiter geht, geht sogar prima.
Anna Basener nennt das eine "autobiographische Inspiration". Ihr Leben hat selbst schon das Original-Prädikat verdient. „Nicht nur, weil sie es aufrichtig mag, abends Fernsehsendungen mit Volksmusik-Ikone Florian Silbereisen zu schauen und sich mit Schlagern auskennt. Sondern auch, weil sie nicht den üblichen Weg einer jungen Autorin gegangen ist … . Sie hat Groschenromane geschrieben, unter anderem in den Genres Adel, Heimat und Sexwestern. Ihr Pseudonym: Catharina Chrysander.
Was ich mir da anhören muss, ist wirkich allerhand: "Nee, ich habe mir nie überlegt, wer das ist und wie die aussieht und ob die anders ist als ich oder nicht. Ich hab in so einem Nachnamenlexikon nachgeguckt nach schönen Nachnamen, hab Chrysander gefunden, und hab gedacht, klingt wie Chrysantheme, Blume, schön, braucht man einen Vornamen auch mit C, zack, fertig, so war das." Paul Valery vom Anfang des Artikels lässt grüssen.
Aber wir hören der Anna noch ein bisschen zu: „In Hildesheim hab ich sehr viel zu tun gehabt mit den ganzen Kreativschreibern. Die dann ganze Nächte durchschreiben mit Rotwein und Tüten und Kiffen und ganz tolle Texte schreiben, aber relativ ähnliche. Und die dann immer zu Wettbewerben eingeladen werden und bei Suhrkamp veröffentlichen und so was. Und in dieser Masse überhaupt mitzuspielen, wäre ein enormer Konkurrenzkampf gewesen. Und da war der Groschenroman, ehrlich gesagt, eher so ein bisschen meine Nische, die nur ich besetzt habe."
Zeit für die klassische Definition:
„Ein Original ist eine Person, die durch unverwechselbares, zum Teil auch exzentrisches Auftreten, Verhalten oder andere Eigenschaften bekannt geworden ist.“
Ich hänge meinen Gedanken nach. Genau die gleichen, die ich nicht nur mit meinem inneren, sondern auch mit meinem äusseren Ohr höre: Vielleicht hat jeder von uns das Zeug dazu, ein Original zu sein. Schliesslich hat jeder Mensch eine Eigenschaft, die ihn aus der Masse heraushebt. Einen Charakterzug. Eine Begabung. Einen Spleen.“
Bei mir ist es die Sprache, die Stimme. Nicht wie Herrmann Prey oder Joe Cocker. Auch nicht eine der vor Optimismus berstenden Stimmen der Radio- Werbung. Nein, meine, die fuer oder gegen alles mögliche spricht. Aber immer persönlich. Meine Arbeitswelt.
Ich hatte nämlich noch ein Hörstück im Ohr, ein Hörstück von Martin Becker und Tabea Soergel namens „Besonders sein“. Einzelne Sätze und Sequenzen meinte ich noch in mir nachklingen zu hören. Vor kurzem, am 20.01.2019 war es über den Sender gegangen. Der Sender war der Dlf.
- „Aufsehenerregende Kostüme tragen“,
- „Ecken und Kanten haben“,
-„In sich selbst das Einmalige entdecken“,
das sind verschiedene Formen Anders-sein.
Sehr oft gehen wir dabei, ob es uns passt oder nicht, vom Außeren aus, eilen meine Gedanken voraus: Die Turnschuhe von Joschka Fischer. Das Feuermal von Michail Gorbatschow. Der gelbe Pullunder von Hans-Dietrich Genscher.Schon das kleine Kind, das den Bartträger anfremdelt, tut es.
Manche sagen es einfacher, fassen inneres und ausseres Erleben zusammen: „Ich denke mal einfach, man geht mit Leib und Seele an eine Sache, und man mag's oder man mag's nicht."
Also: Hineinpassen in die Zielgruppe, das Ambiente. Die Kriterien erfüllen, das ist die erste Bewegung, auf das Besondere, das Andere zu.
FRANK GOOSEN, der Schriftsteller (Liegen lernen, Frankfurt 2000) soll das so gesagt haben: "Es gibt ein Bild, das man sich von einer Gegend, von einem Menschenschlag macht, und dann gibt es Einzelne, die dem so genau entsprechen, dass man sie als Originale bezeichnet."
Ergo lässt sich zusammenfassen: Das Rezept für ein echtes Original kann man nirgendwo nachschlagen. Man muss es in sich finden. Es ist eine Bewegung auf das Neue hin und eine, die einem
aus der Vorstellung, die man hat, entgegenspringt.
„Vielleicht wird man ja gar nicht als Original geboren, sondern wächst einfach in die Rolle hinein. Zum Beispiel durch den passenden Beruf, das richtige Ambiente, das geeignete Umfeld“ mutmassen andere deutlich hörbar.
In sich finden nennen das die einen, „Selbsterfinder“ nennen die anderen das Genie, Orginal. Jemand gibt zu bedenken:„Vielleicht hat man ja auch gar keine andere Wahl: Man macht aus dem, was einem das Leben mitgegeben hat, das Beste.“ Wenn man nun denkt, da müsse ein Vivaldi und Mozart das Licht der Welt erblicken, dann irrt man, die Zutaten dürfen viel profaner sein, z.B. ein looses Mundwerk, ein rüder Ton usw., Gossen Reichtum oder sozialer Status brauchts nicht. „Es genügt eine Abweichung von der Norm. Eine Auffälligkeit. Eine Macke, die nicht alle haben. Etwas zu laut oder etwas zu leise reden, etwas zu forsch oder etwas zu unbeholfen den Raum betreten, eine Spur zu bunte und zu geschmacklose Kleidung tragen - und schon wird die Originalität zum Selbstläufer. Und schon ist man anders als der Rest.“
Darin ähnelt der Unterhaltungsroman-Autor Frank Goosen von heute dem Philosoph und Selbstdenker Paul Valery von gestern (1970-1945, einem erratischen Block aus Philosoph, Poetik und Naturwissenschaftler, ein Genie, aber vor allem ein passionierter Selbstdenker, der 50 Jahre lang Tag um Tag die Gedanken seine Selbst-Erforschung und Introspektion 1-2 Stunden lang in seine Hefte schrieb und sie dann verbarg. „Man soll nur an das glauben, was man selbst erfunden hätte“ notierte er (Paul Valery, Ich grase meine Gehirnwiese ab, Frankfurt 2016).
In Zeiten von Influenzern und Testimonials, von Followern und Mee-Toos ist das ein bemerkenswerter Satz. Einerseits: Blind fast , doch nach Aussen spähend, sein Ziel ins Auge fassend, sich durch nichts davon abbringen lassen. Andererseits: Besondere Andere, verehrt und bewundert. Wie kommt man da raus, aus der Klemme zwischen eingerahmt sein und im Mittelpunkt stehen?
Wie so oft: Als Künstler oder Kreativer. "Ein Künstler hat Originalität, wenn er frei aus der Ursprünglichkeit seines eignen Genius schafft. Im engern Sinne versteht man dann unter Originalität auch das durch seine Eigentümlichkeit vom Allgemeinen Abweichende, Überraschende, Seltsame und Wunderliche."
So erklärt sich das fast schon innige Verhältnis zwischen IT, der Informationstechnologie, und der Kunst. Was der IT ausgetrieben wurde, ist in der Kunst zu suchen und zu finden, und zwar geballt. Linke und rechte Gehirnhälfte marschieren getrennt.
Was an Gemeinsamkeiten noch da ist, wird durch Sprache und Stimme gemeinsam transportiert. Ich höre, wenn auch arg verrauscht: „Wo die Logopäden eher dazu neigen würden zu sagen: Der muss aber mal so ein bisschen sich entspannen, oder: Der knödelt, oder, na ja, eben zu rauchig, zu verhaucht, das sind eigentlich genau die Aspekte. Also alles, was als Störung empfunden wird, ist eigentlich spannend."
Stimme und Sprache transportieren sowohl das Kreative, Analoge als auch das Digitale, den Sachverhalt. „Jedes Produkt braucht eine Stimme, die klingt wie keine zweite.“ Und nach einer Weile ist weiter zu hören: „Das ist ein Mensch, der hat das alles so in sich, dass er sein Potenzial komplett einsetzen kann, und in der Stimme ist es dann hörbar." Nach einer weiteren Weile höre ich, wenn auch immer noch nicht ganz kristallklar, wieder etwas: "(...) Es soll nicht bekannt klingen, es soll nicht werblich klingen, es soll nicht, es muss anders sein. Und am Ende ist aber das Ohr, sind die Hörgewohnheiten doch sehr konventionell infiltriert. D.h. also, das andere ist eben im Grunde genommen nur eine kleine Breite davon entfernt davon, was erlaubt ist."
Eine kleine Breite, soll wohl heissen: eine minimale Abweichung reicht. Vielleicht eine noch nicht einmal hörbare Abweichung. Eine grosse Aufgabe für ein unbeachtetes Organ, ist unser Verstehen doch meist an Inhalte gebunden.
Summa: "Original und originell bedeuten ursprünglich, nicht nachgeahmt, folglich auch echt und unverfälscht; nennt man daher einen Gegenstand ein Original, so heisst das, er sei nicht durch Nachahmung, Überarbeitung oder Kopieren eines andern entstanden."Besser verlispelt, verfistelt, verstottert als überhört.
Manche mögens noch penibler: "Auch Menschen werden Originale genannt, wenn sie sich durch Originalität ihrer Denkungsart oder ihres Benehmens auf eigentümliche und auffallende Weise vom Gewöhnlichen entfernen..."
Was passiert da? Ich bin ganz Ohr: „Ecken und Kanten vergrössern die Reibungsfläche, gerade auch in der Politik. Je eigenwilliger der persönliche Stil, desto grösser die Widerstände, gegen die man sich tagtäglich durchsetzen muss.“ So rum, nicht andersrum wird ein Schuh draus.
Aber ein Schuh mit „Abstand, Humor und auch ein bisschen Selbstironie“ denn wir befinden uns auf spleenigem, ja bizarren Felde, für das im Extrem nur in der Psychiatrie noch Raum ist. Man hat den Eindruck, manche flüchten sich geradezu dahin.
Wir hören Anna Basener: "Ich glaube, ein Original muss besonders sein in dem Sinne, dass es nicht in der Masse untergeht - und vielleicht auch besonders in dem Sinne, dass es nicht glatt ist, dass es nicht schön ist - sondern irgendwas hat, was provoziert, was so eine kleine Ecke ist, was Kanten sind, was anders ist - was vielleicht sogar den Mainstream ein bisschen stört." Einen an der Waffel haben – könnte man es so sagen?
Anna Basener ist Expertin für Originale und Orginelles, erfahre ich, wenn ich weiter frage. In Essen geboren, Kulturwissenschaftlerin. „Anna Basener hat die Omma gross gemacht. Ein Begriff, der schon längst nicht mehr nur eine Grossmutter an sich meint. Omma ist ein feststehender Ausdruck.“ Wer in Essen geboren ist, ist schon ganz nah dran am Orginal, in diesem Fall am Arbeiter. Orginal-Ton Basener:
"Jeder aus dieser Welt, aus dieser Arbeiterwelt hat so eine Omma.“ Harpe Kerkeling hatte zwei Omileins, denen verdanken wir den Hannilein. Das war der letzte Zahn, der uns gezogen wurde: Arbeiter geht, geht sogar prima.
Anna Basener nennt das eine "autobiographische Inspiration". Ihr Leben hat selbst schon das Original-Prädikat verdient. „Nicht nur, weil sie es aufrichtig mag, abends Fernsehsendungen mit Volksmusik-Ikone Florian Silbereisen zu schauen und sich mit Schlagern auskennt. Sondern auch, weil sie nicht den üblichen Weg einer jungen Autorin gegangen ist … . Sie hat Groschenromane geschrieben, unter anderem in den Genres Adel, Heimat und Sexwestern. Ihr Pseudonym: Catharina Chrysander.
Was ich mir da anhören muss, ist wirkich allerhand: "Nee, ich habe mir nie überlegt, wer das ist und wie die aussieht und ob die anders ist als ich oder nicht. Ich hab in so einem Nachnamenlexikon nachgeguckt nach schönen Nachnamen, hab Chrysander gefunden, und hab gedacht, klingt wie Chrysantheme, Blume, schön, braucht man einen Vornamen auch mit C, zack, fertig, so war das." Paul Valery vom Anfang des Artikels lässt grüssen.
Aber wir hören der Anna noch ein bisschen zu: „In Hildesheim hab ich sehr viel zu tun gehabt mit den ganzen Kreativschreibern. Die dann ganze Nächte durchschreiben mit Rotwein und Tüten und Kiffen und ganz tolle Texte schreiben, aber relativ ähnliche. Und die dann immer zu Wettbewerben eingeladen werden und bei Suhrkamp veröffentlichen und so was. Und in dieser Masse überhaupt mitzuspielen, wäre ein enormer Konkurrenzkampf gewesen. Und da war der Groschenroman, ehrlich gesagt, eher so ein bisschen meine Nische, die nur ich besetzt habe."
Zeit für die klassische Definition:
„Ein Original ist eine Person, die durch unverwechselbares, zum Teil auch exzentrisches Auftreten, Verhalten oder andere Eigenschaften bekannt geworden ist.“
Ich hänge meinen Gedanken nach. Genau die gleichen, die ich nicht nur mit meinem inneren, sondern auch mit meinem äusseren Ohr höre: Vielleicht hat jeder von uns das Zeug dazu, ein Original zu sein. Schliesslich hat jeder Mensch eine Eigenschaft, die ihn aus der Masse heraushebt. Einen Charakterzug. Eine Begabung. Einen Spleen.“
Bei mir ist es die Sprache, die Stimme. Nicht wie Herrmann Prey oder Joe Cocker. Auch nicht eine der vor Optimismus berstenden Stimmen der Radio- Werbung. Nein, meine, die fuer oder gegen alles mögliche spricht. Aber immer persönlich. Meine Arbeitswelt.
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