Freitag, 16. Oktober 2015
Freitag, 16. Oktober 2015
Bildung global. Zu Jacques Derrida: Die unbedingte Universität, Frankfurt 2001. Vortrag von 1998 an der Universität Stanford, gehalten in Englisch.

Was der in Algerien in einfachen Verhältnissen geborene Philosoph Jacques Derrida Universität nennt, meint Humanities und das meint Geisteswissenschaft, Bildung auf Deutsch. Für Bildung nicht das nur bei uns gebräuchliche Wort Bildung zu benutzen, Bildung aber sehr wohl zu meinen, sagt etwas über die globale Dimension von Bildung.

Humanities „hat ihren Ort nicht .. ausschliesslich innerhalb der Mauern dessen, was man heute Universität nennt. ... Sie findet statt, sie sucht ihre Stätte, wo immer diese Unbedingtheit sich ankündigen mag“ (S. 77, vgl. 21, 34). Das ist ein Paukenschlag, der die Diskussion um Bildung von unerwarteter Seite eröffnet: aus dem befreundeten nicht-deutschsprachigen Ausland. Bildung als Bedingung des Humanen und Dimension des Globales ist nichts Neues, wohl aber, jedenfalls für uns, die Begründung und Begriffe. Universität ist einer von ihnen, und gar nicht mal ein schlechter, universal steckt drin.

„Unbedingt“, das Adjektiv zu Universität, heisst: Gesetzt. nicht relativierlbar, „sans condition“, heisst frei zu sein von jeder einschränkenden Bedingung (vgl. S. 9). Hier bezieht sich Derrida auf das Modell der mittelalterlichen Universität, der es um Wahrheit geht und die deshalb wie Menschenrechte globalen Anspruch habe (9-11). Er tut es aber nicht mit den Worten deutscher Geisteswissenschaftler, bei denen jetzt früher oder später das Wort „Autonomie“ fiele, er tut es unter Hinweis auf den Kraftakt des Widerstands. Es ist Widerstand, der Bildung wie Menschenrechte einfordert, jeweils global.

Derrida beruft sich nicht auf Begriffe, sondern auf Energien, auf Kräfte, Widerstandskräfte. "Dekonstruktion“ meint Widerstand. Widerstand gegen die (Staats-) Macht genau wie Widerstand gegen die Annahmen und Selbstverständlichkeiten eines Denkens, das sich selbst nicht mehr in Frage stellt (12, 13). Voilá, das Oberstübchen im Elfenbeinturm steht offen. Die Kraft, die Überzeugungskraft, die Souvernität der Humanities wurzelt für Derrida im Widerstand (20).

Nachdem so von hoher Warte das Territorium im Blick ist, nimmt sich Derrida schon Ende der 90er die „entortende“ Cyber-Demokratie vor, die den Raum destabilisiert (25 f.).

Und wie schon bei der Wortwahl nimmt er auch hier eine „andere Route durch dieselbe Gegend“ eine Route, die den Ort nicht aufgibt (25) trotz progresiven Weltweit-werdens (30 o.). Wer von denen, die es gelesen haben, fühlt sich da nicht an Benedict Careys Ableitung der menschlichen Hirntätigkeit aus der Nomadenexistenz erinnert (Neues Lernen, Frankfurt 2015; in diesem Blog bereits erwähnt). Was beim Philosophen Derrida eine Route durchs Gelände ist, ist beim Wissenschaftsjournalisten Carey die Navigation mittels innerer Landkarte, die das Gehirn zu seiner Orientierung anlegt.

Die Brücke zwischen Wort und Gesellschaft, baut Derrida mit der „Lehre“, die ihm zufolge eine öffentliche Erklärung sei, und damit mehr als (bezahlte) Arbeit sondern Werk, analog zum Werk des Künstlers (37,38). Während das Denken deutscher Sozialwissenschaftler um den Begriff der Arbeit kreist, siedelt Derrida Lehre und Lehrberuf im Umfeld des Kunstwerks an, spricht vom Doppelcharakter des Lehrberufs (40).

Über die Brücke des Doppelcharakters geht Derrida auch in Sachen cyberspace contra staatlich-nationale Grenzen (45), und wie er eben noch das Werk verteidigt hat, so verteidigt er hier den Ort (45/6). Folglich steht er der These vom Ende der Arbeit (Rifkin) auch durch Tele-Arbeit (55, 56) eher reserviert gegenüber. Trotz aller Mondialisierung, handele es sich um im Körper des Arbeiters lokalisierbare Arbeit (59). Derida beobachtet nämlich neue (körpernahe) Äusserungen von Tugenden, wie der Brüderlichkeit (61) und zitiert „tu eris magister in aeternum“ nach Le Goff, wodurch er Begrenzung durch den Ort der Universität und Entgrenzung durch die Dimension der Ewigkeit zusammenbringt.

Wieder hat das Schulleben des 12./13.Jahrhundert, die „negotia scolaria“, Pate für die zukünftige Aufgabe der Humanities zu stehen, als da wäre: Reflexion ihrer Geschichte und Grundlagen und zwar interdisziplinär in sämtlichen Fachbereichen, das „Eigene des Menschen“ aufzuspüren (64 ff.), wieder zu dem Zweck, eine neue Route durch dieselbe Gegend auszuspüren. Eine Etappe besteht für Derrida darin, das Lehren mit den religiösen Prämissen des Lehrens in Verbindung zu bringen (69). Nachdem er die Etappen nochmals abgeschritten hat (68 ff.), nimmt er das Unmögliche selbst als Ziel, Weg und Wesen des (dekonstruktiven) Denkens ins Visir (73).

Im Rückgriff auf Kant wird die Figur des „Als-ob“ zur Figur des riskierenden Denkens und die Geisteswissenschaft wird aus dem Geist der Dekonstruktion neu begründet (74).

Dem (religiös wie künstlerisch) paradoxen (Doppel-) Charakter seines Werkes wird Derridas prophetischer Schlusssatz gerecht (78):
„Lassen Sie sich Zeit, aber tun Sie es schnell, denn Sie wissen nicht, was Sie erwartet.“

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Mittwoch, 14. Oktober 2015
Mittwoch, 14. Oktober 2015
Es gibt kein richtiges Leben im Falschen. lautet ein philosophisches Verdikt.

Oh doch, es gibt ihn, den Richtigen im Falschen:

Da ist der Richtige, der es an nichts politisch Korrektem fehlen lässt, sich keines Rassismus schuldig macht, nirgends, aber unablässig die Welt einteilt in Pfaffen, Banker, Sozen, Pinneberger usw. und sich darob mitten im Falschen wiederfindet.

Oh doch, es gibt sie, die Falsche im Richtigen:

Da ist die Falsche, die eifrig und bemüht, immer und überall dem Richtigen das Wort redet, deren Mund aber voll ist von Verfehlungen, Abweichungen und Unwahrheiten anderer, wobei ihr von falscher Seite (natürlich) heftig Beifall gezollt wird.

Wer etwas ausschliessen will, macht sich zu dessen Teil.
Wer etwas ausschliesslich sein will, macht sich zu dessen Gegenteil.

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Freitag, 9. Oktober 2015
Freitag, 9. Oktober 2015
Europa? Ach nee!
Dem Fragezeichen folgt das (t)rotzige Ausrufezeichen auf dem Fuss: „Ach nee, wär ja noch schöner!“

Die demonstrative Vor- und Selbsteingenommenheit gegen die die Zweifler verzweifelt anrennen, kommt nicht von Ungefähr: Europa wird nicht von einem Zentrum regiert, noch nie, wenn man die Kaiserpfalzen nimmt, heute weniger denn je, wenn einem die Kakophonie der Stimmen und Meinungen im Ohr klingen.

Europa, das ist der Kontinent, der von den Rändern, von den Provinzen und dem Provinziellen aus regiert wird. Europa, das ist der Raum, in dem der Zweifel hoffähig ist und kultiviert wird: Der Zweifel an der Zentrale und zentralen Doktrinen.

Der Zweifel, das Infragestellen, wird kultiviert im philosophischen Diskurs, wird kultiviert im religiösen Zweifel, im meinungsfreien Meinungsstreit. Der Schutzpatron der Zweifler, Thomas, hat es bis in den inneren Zirkel des Religionsstifters geschafft.

Europa? Von der Währung über den Datenschutz bis zur Gerechtigkeit, ist es überhaupt noch zu retten? Darauf tönt es spöttisch, überheblich wie eh und je:
„Was wollt ihr denn? Seit Jahrtausenden ging hier jeder jedem an die Gurgel, ist doch ein schöner Fortschritt, dass wir das jetzt so tun, dass noch etwas, wenn auch leicht gequetscht, herauskommt aus dieser Gurgel."

„Gequetscht“ ist vornehm übertrieben. Gar nicht pauschal, überzogen und extremistisch genug kann sein, was da als Kritik von sich gegeben wird.
Und: Stimmts etwa nicht? Kamen aus diesem Europa etwa nicht immer wieder Fanfarenstösse für Demokratie und Freiheit? Stärkte die Heterogenität etwa nicht den Druck, Lösungen zu finden?

Im Gegenteil: Zeigen die mit Direktiven zentral regierten Territorien nicht täglich ihre Schwächen, wenn es an die Umsetzung geht? Was eben noch vollmundig hochgejubelt wurde, öffnet im nächsten Moment der Ausrede, dem Wegmogeln und Wegmaulen soviel Türen und Tore, dass der gewohnte Schlendrian und die bemängelte Praxis äusserst kompfortablen Unterschlupf finden. Stimmts etwa nicht? Je klarer die Richtungsweisung, desto miserabler die Praxis.

Ich formuliere das als Frage. Das mit Sicherheit einsetzende Schauspiel des Meinungs-HickHacks mit verteilten Rollen und bekannten Argumenten soll mir nicht entgehen. Die Erschöpfung, die dann einsetzt, nennt man Katharsis, Konsens oder Frieden.

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