Montag, 28. Januar 2019
Paul Valery - ein erratischer Denker
In Zeiten, in denen wir vor lauter künstlicher Intelligenz vergessen, dass sich diese an der Intelligenz höchstselbst orientiert, sei ein Seitenblick auf den erratischen Denker Paul Valery gestattet. Erratisch, da ohne Vorbild, erratisch, da für sich stehend. Wie ein Felsblock, den die tektonische Bewegung weit weg ins Terrain verschoben hat. Zitate: Bertolet s.u.

„Schon in seiner Kindheit entwickelt Valéry ein „Doppelwesen, worin innen und außen zwei getrennte, unabhängige, einander nahezu indifferente Leben führen“. Fassbar wird das an seiner Scheu, Privates öffentlich zu machen. Alles Emotionale scheint ihm banal und wird seinem schon früh begonnenen Lebensprojekt untergeordnet: die Fähigkeiten des Intellekts, die Schönheit des Denkens in all ihren Nuancen zu erproben und auszureizen. Spätestens seit der als „Nacht von Genua“ bekannt gewordenen Persönlichkeitskrise von 1892, die ihn für fast zwanzig Jahre von der Dichtung Abschied nehmen lässt, ist absolute Rationalität zu seiner existentiellen Leitformel geworden.

Am deutlichsten wird dieses Lebenskonzept wohl an der Akribie, mit der er ab 1894 tagtäglich in den Morgenstunden seine berühmten „Cahiers“ verfasst, in die er Gedankenfetzen, Reflexionen wissenschaftlicher und philosophischer Art einträgt. Es ist ein immer weiter sich ausdehnendes Projekt, das am Ende seines Lebens fast 28.000 Seiten umfasst: eine „Wüste von Wörtern“, wie er selbst sagt. Schwer einzuschätzen, ob den „Cahiers“ bei Bertholet zu viel Raum eingeräumt wird, wie Jürgen Schmidt-Radefeldt in seinem Vorwort zu Bedenken gibt. Jedenfalls beginnt der „papierne Doppelgänger“ irgendwann ein Eigenleben zu entwickeln, das für Valéry Fluch und Segen zugleich bedeutet. Wenn er auch bei vielen seiner späteren Essays und Gedichte – mit 42 kehrt er zur Literatur zurück – aus dem Fundus der „Cahiers“ schöpfen kann, scheitern all seine Versuche, die Notizen durch Klassifizierung beherrschbar zu machen.

Er gibt sich geschlagen. Er wird dieses Mammutprojekt des Geistes zu Lebzeiten nicht abschließen. Ähnlich ergeht es ihm in anderen Bereichen. Wenn er versucht, auch sein Ego zu rationalisieren und zu begrenzen, gelingt das nicht auf ganzer Linie, wie Bertholet zeigt. Immer wieder wird er von psychischen Krisen und Krankheiten geschüttelt, lässt sich auf schwierige Liebesaffären ein und scheint mehrmals am Ende seiner Kräfte.
Dennoch sind seine intellektuellen Leistungen immens. Sein Interesse an Konstruktion und Struktur entsteht an Kunst und Architektur und lässt ihn später die Schönheit von Mathematik und Naturwissenschaften entdecken. Als Zeitgenosse von Einstein und Marie Curie bringt er die Logik der Naturwissenschaft in die Dichtung, bleibt immer mehr an der Technik als am Thema interessiert. Romane findet er trivial. Seine großen poetologischen Schriften und Vorträge betonen den Vorgang des Entstehens, nicht das fertige Werk. So gab es wohl nur wenige Autoren, die ihrer eigenen Zunft so kritisch gegenüberstanden wie Valéry: „Dichter ohne Dichtung, antiphilosophischer Philosoph, jetzt auch noch schreibender Nichtschriftsteller: Das macht zusammen eine Menge Paradoxe, aber so ist Valéry nun einmal“, schreibt Bertholet.

Man hat ihm vorgeworfen, dass er immer mehrere Tätigkeiten parallel verfolgt und dabei keine mit vollem Einsatz. Von einem Freund erfährt er, dass man ihn als Versager bezeichnet. Tatsächlich fällt es schwer, ihn einem Berufsbild zuzuordnen. Nach seinem Jurastudium veröffentlicht er Verschiedenes, ist im Staatsministerium tätig, dann langjähriger Privatsekretär von Édouard Lebey, dem Gründer der Presseagentur Havas. Immer verkehrt er in den besten Kreisen: Unter Intellektuellen, Wissenschaftlern, Künstlern, Politikern.

Der gesellige Einzelgänger Valéry“: eine Biografie von Denis Bertholet von Regina Roßbach
Sowie: Ich grase meine Gehirnwiese ab. Aus den Cahiers.
Fischer Tb

In Zeiten, in denen die Philosophie und die Sozialwisenschaften brüchig werden und in zählbare und statistikfreundliche Einzelteile auseinanderfallen, hat der erratische oder auch eklektische Denker Konjunktur.

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