Mittwoch, 30. September 2015
Mittwoch, 30. September 2015
Bildung und Biografie gehören auch bei mir mehr zusammen, als ich bisher dachte, meine Erinnerungen belegen das.

In der Vorstellung werden Bildung und Biografie als verschiedene Sphären gedacht: Die Biografie ist unser Leben, ihre Wurzeln reichen bis ins Innerste unser Motivation, unseres Antriebs. Bildung ist in unserer Vorstellung Äusseres, die Instanzen der Bildung, die wir absolvieren, differieren von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Umgebung zu Umgebung. Auch die gefühlte Trennung der Sphären ist gelernt, aber das macht sie nicht weniger real.

Bei mir sind schon frühe Erfahrungen gerade auch in der Familie Bildungserfahrungen:
- Hänsel und Gretel, der erste Film mit vier, fünf Jahren. Ich war schwer beeindruckt. Noch heute meine ich bestimmte Szenen zu erinnern. Meine Mutter war schwer enttäuscht: Die sangen ja. Das hatte sie nicht erwartet, Humperdinck kannte sie nicht.
- Ein Film mit Freddy. Liebe und Steppenbrand in Brasilien, ich war acht, neun Jahre und das erstemal allein im Kino. Meine Mutter dachte, sie hatte mich in eine Art „Die Wüste lebt“ geschickt. Brasilien war auch eine Art Brücke zur väterlichen Verwandschaft, die dorthin ausgewandert waren. Sie schämte sich. Sie schämte sich vor mir.

Die Kluft tat sich zum ersten Mal auf, zwischen ihr, die nie verwunden hat, dass sie wegen der vielen Umzüge der Familie faktisch nur bis zur Hauptschule und zur Ausbildung zur Krankenschwester gekommen war und mir, dem sie das zukommen lassen wollte, was für sie Bildung war. Aus Kluft wird Bruch. Zunehmend misstrauisch wird sie alles, was ausserhalb, in der Schule passiert, betrachten.

- In der letzten Klasse der Grundschule, die für die meisten Volksschule war und blieb, fand sie in meiner Schultasche 27 alte Hefte. „Siebenundzwanzig“, diese Zahl wurde so oft wiederholt bis sie eine Chiffre war, eine Chiffre für unnütz, unangemessen, inadäquat. „Siebenundzwanzig“. Ihre Stimme war schrill vor Empörung.
- Dann war die Schönschrift dran. Die Schrift des Aufsatzes war meiner Mutter nicht schön genug, beim ersten Mal nicht, beim zweiten Mal nicht und beim dritten Mal sagte ich „nein. Mit dem Rücken zur Wand.
- Dann waren die Kopfnoten dran. die die anderen Noten in den Schatten stellten.
- Dann waren es die blauen Briefe, die Versetzung sei gefährdet, die meine Mutter das Weihnachtsfest mit migräneartigen Anfällen bettlägerig erleben liess. Ich arbeite mir Ausgleich, der Brief sei eine Formsache, dies Argument zählte nicht.

Kindliche Erlebnisse und Erfahrungen sind Bildungserfahrungen, sind elementare Erlebnisse, nicht weil sie in der Elementarschule erworben werden, sondern weil Erfahrungen von Wissen, Lernen und Können elementare Erfahrungen sind. In der Theorie ist uns das klarer als in der Praxis: Während wir noch nach den Auslösern für unsere Bildungsbiografie suchen, hat sie schon längst begonnen.