Donnerstag, 20. November 2014
Donnerstag, 20. November 2014
Das Private ist nicht privat sondern gesellschaftlich vermittelt.

Es reicht nicht, einfach ein Fenster aufzumachen um andere teilhaben zu lassen an seinem Innenleben. Es reicht nicht, einfach durch ein Fenster zu spähen, um Innenleben und Absichten eines Menschen zu erkunden. Man wird nur Akten füllen und Protokolle schreiben, die dokumentieren, dass man draussen geblieben ist. Man kann das nachlesen in den Akten, wie weit draussen die informelle Beobachter waren.

Im Privatleben und der (abgestuften) Abgrenzung zum Öffentlichen vermittelt sich der Mensch dagegen in seinen komplexen gesellschaftlichen Funktionen.
So vermittelte er sich in der Vergangenheit

- als Herrscher in der Kontrolle seiner Räume
- als Bauer in der Gebundenheit an die Scholle
- als Bürger in der Trennung von Beruf und privat.

Der Soziologe Norbert Elias hat diesen Prozess als Prozess der Zivilisation, der Abschirmung, der Separierung geschildert. Was separiert wird, ist damit keineswegs "weg" sondern vermittelt sich neu in Symbolik und gesellschaftlicher Funktion und wird dadurch letztendlich in komplexerer Form wiederum öffentlich.

So wanderte im Prozess der Zivilisation alles, was mit Verwundung, Blut und Aggression, so das Zerlegen des Tieres, von der gemeinschaftlichen Tafel in die Küche.

Ein Prozess, der von Interesse ist auch für das Marketing, weil es die Frage berührt, wen ich denn da anspreche. Ist da wirklich nur der Privatmensch oder der Berufsmensch angesprochen? Welches Selbst- und Rollenverständnis im einen wie im andern Falle schwingt da mit?

- Ist wirklich nur der Manager angesprochen, dem ein Führungskräfte-Training in exklusivem Ambiente angeboten wird?
- Ist wirklich nur der IT-Youngster, der sein Seelenfreud und -leid 1:1 in die Welt bläst, mit einem Multi-Media-Design-Kurs angesprochen?

Hinter den Mustern und Rollen befindet sich ein hinter die Kulissen verlegtes Selbstverständnis. U.a. die Darstellungen des bürgerlichen Wohnraums in der Malerei des 16. Jahrhunderts (Vermeer) holt es da raus.

Die Öffnung betrifft nicht nur die Darstellung sondern auch die Künstler:
Die "Malweiber" des ausgehenden 18. Jahrhunderts und die Damenakademie München nach dem Vorbild der Königlich Bayerischen Akademie der Künste waren erste Formen eigenständiger beruflicher Existenz von Frauen. Auch heute bieten Künstlerexistenzen vielfach das, was die Berufslaufbahnen nicht bieten: Die Möglichkeit zu experimentieren und sich zu irren, Grenzen zu überschreiten, Kombinationen auszuprobieren.

In der Gegenwart ist die Multifunktionalität in das Design der Räume und Gebrauchsgegenstände eingewandert und spielt mit Zweck und Zweckentfremdung. Damit variiert der Mensch in vielfältigen Kombinationen sein Verständnis dessen, was es heisst, sich einerseits als privates andererseits als soziales Wesen zu verstehen und mit Kombinationen beider Seiten zu experimentieren.

Durch die virtuelle Realität eröffnet sich noch eine weitere Dimension. Virtuellen Welten sind nämlich prinzipiell unbegrenzt, das Agieren in ihnen in seinen Auswirkungen deshalb nicht absehbar. Aber so wie uns im Öffentlichgemachten der Boden wegsackt, so wird auch das Private virtuell und grenzenlos. An die Stelle des räumlichen Rückzugs tritt das Hin- und Her-Switchen zwischen dem Bewusstsein einerseits öffentlich zu handeln, andererseits für sich zu sein.

Was sich bei allem stringent durchzieht, ist: Einen Unterschied zu machen in meinem Handeln und Verhalten. Ob nun in dem, was ich mitteile (in Abstufungen) oder für mich behalte. Den Unterschieden, die ich mache, folgen die Schamgrenzen, die diese Unterschiede markieren.
Man sehe sich nur an, wie sorgsam der Sitznachbar sein Smartphone vor meinem Blick abschirmt. Die ganze Welt kann mitlesen, die angeklickte Seite ist Tausenden zugänglich, du aber kommst ihm zu nah.
Denn im Moment der Betrachtung baut sich eine einmalige Verbindung zwischen gerade diesem Betrachter und gerade dieser Webseite auf. In diesem Moment ist dein Nachbar höchst privat. Was privat ist oder nicht, hat sich in den Kommunikationsprozess verlagert. Im nächsten Moment klingelt das Smartphone und dein geschätzter Nachbar gibt alles Welt zu verstehen, welches ganz und gar intimes Verhältnis er zum Anrufer hat. Er ist es, der dosiert, der zuteilt, und darin sehr privat ist.

So variabel, wie mit Öffentlichem und Privatem jongliert wird, so variabel verlaufen die Schamgrenzen. Ein Nacktphoto im Internet stört das Schamempfinden wenig, sich vor Nachbarn nackt zu zeigen, kann die Schamgrenze erheblich mobilisieren. Entscheidend für das Empfinden von Scham ist die Art der Kommunikation. Welche Folgen muss ich erwarten oder befürchten? Stosse ich auf Verständnis oder auf Ablehnung, auf Kälte oder sogar Gewalt? Nacktheit ist eine Chiffre für Verletzbarkeit.

Viel spricht dafür, Privatheit in Zukunft durch Switchen zu erzeugen. Die Spur soll nicht verfolgbar, vor allem nicht vorhersehbar sein. Flippige, unberechenbare Lebensstile haben Konjunktur. Eine ganz andere Frage ist, ob der Mensch trotz allem berechenbar ist. Aber es ist eine Frage, noch nicht die Antwort.

Menschen haben sich der Fremdbestimmung immer wieder entzogen und dafür neue Widerstandsformen ersonnen. Wenn sich facebook als Raum dazu nicht mehr eignet, wird man nach neuen Räumen suchen. Im Eindruck wehrlos zu sein, liegt die wirkliche Gefahr für die Demokratie. Darin, Unterschiede zu machen, behauptet sich der Mensch in seiner Autonomie ebenso wie als sozial teilhabendes Wesen. Das handelsübliche Marketing stellt dies vor die unerquickliche Alternative einer Massenansprache, die nur Trends sieht oder einer "individuellen" Ansprache, die das Anders-sein mit unzähligen Accessoires versieht, welche käuflich zu erwerben sind. Im Alltag des sich des Problems bewussten Marketers heisst das, gerade die Momente und Elemente anzusprechen, die für diesen Adressaten den Unterschied machen, statt lärmend das "einzig Wahre" oder das "einzig Billige" anzupreisen. Ein derartiges Marketing kann sehr sorgfältig im Detail und sehr leise sein. Wer die Aufmerksamkeit "gespitzter" Ohren seines Auditoriums gewinnen will, muss leise werden.