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Freitag, 1. Februar 2019
Über kurzes und langes Leben
kuehnesmallworld, 13:14h
Manche leben ewig, so scheint einem. Sie waren immer schon da, sind immer noch da.
Dagegen ist die Erinnerung an andere an einen Moment, ein Geschehen gebunden, scheint für einen Moment auf,
verblasst dann für immer oder einen langen Zeitraum.
Die einen sind massiv im Auftreten, nehmen Raum und Platz ein. Die anderen sind im fast schon wörtlichen Sinn „halbe Portionen“.
Die Präsenz der letzteren findet kaum physischen Niederschlag, sie sind, so scheint es, schon zu Lebzeiten in einer virtuellen "Zwischen-Realität" angesiedelt.
Erinnerung ist nicht gleich Erinnerung.
Gegenwart ist nicht gleich Gegenwart.
An welche Präsenz, knüpfen wir unsere Erinnerung?
Dagegen ist die Erinnerung an andere an einen Moment, ein Geschehen gebunden, scheint für einen Moment auf,
verblasst dann für immer oder einen langen Zeitraum.
Die einen sind massiv im Auftreten, nehmen Raum und Platz ein. Die anderen sind im fast schon wörtlichen Sinn „halbe Portionen“.
Die Präsenz der letzteren findet kaum physischen Niederschlag, sie sind, so scheint es, schon zu Lebzeiten in einer virtuellen "Zwischen-Realität" angesiedelt.
Erinnerung ist nicht gleich Erinnerung.
Gegenwart ist nicht gleich Gegenwart.
An welche Präsenz, knüpfen wir unsere Erinnerung?
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Mittwoch, 30. Januar 2019
I. Let it be, let it be, let it be
kuehnesmallworld, 13:06h
Analoge & digitale Beispiele (s.u.) für nachhaltige statt nur disruptive Innovation. Die Serie wird fortgesetzt.
1. Der Natur folgend nachhaltige Kommunikation anstossen:
Erstes Let it be is die Babybe-Matratze, eine Gelmatte, verbunden mit einer Matte im Inkubator. Babybe ist eine Gelmatte in Form einer Schildkröte, die auf dem Bauch der Mutter liegt und den Herzschlag, den Atem der Mutter, überträgt, genauso, wenn sie spricht, singt oder vorliest.
Das ist doch mal eine gelungene Kombination von Analog und Digital! Herzschlag, Atem, die Stimme, das alles ist analog. Die Übertragung aber ist digital. Und: Die Erfindung ist eine echte Innovation, eine Innovation, die nicht einfach beschleunigt oder technisiert. Ein Bruch im Denken ist nötig, ein Perspektiven-Wechsel. Mutter und Kind sind hier keine natürliche Einheit. Der Blick auf beide nimmt sie nicht gemeinsam wahr sondern wandert von der Mutter zum Kind, vom Kind zur Mutter. Er kommt einmal aus der Richtung Kind und einmal aus der Richtung Mutter. Das heisst: Die Technik ist mehr als ein Transportmittel. Die Perspektive ändert sich, der Blick auf das, was verbindet: die elektronische „Nabelschnur“.
2. Durch Technik Sehgewohnheiten nachhaltig beeinflussen:
"Dann nimmt man die Kamera hoch, korrigiert das Motiv noch mal. Man muss sich limitieren, man hat ja nur 36 Aufnahmen. Diese Selektion, die da stattfindet, das ist einfach eine andere Art, den Workflow zu organisieren."
Mirko Böddecker über die Rückkehr der analogen Fotografie, zit. nach DLF Nova vom 25.1.19 .
Wir haben richtig gelesen: Die Sehgewohnheiten ändern sich. Und das auch noch durch eine Technologie von gestern: Das Treffen der Auswahl, die Entscheidung für genau dieses Bild ist der Rubikon, den man ueberschreiten muss. Ein Schritt, der dann auch zeigt, was überschritten wurde in Richtung digital. Kaum merkbar überschritten, automantisch überschritten: Die Entscheidung, die Einmaligkeit wurde überschritten. Der Schritt zurück, der sehr populäre Schritt zurück, ist keine Nostalgie, es ist ein Zurück zur Entscheidung. Die Serie, die die digitale Fotografie (im Übergang zum Video) produziert, macht Bild für Bild winzige Unterschiede sichtbar, die allerdings höchstens eine Optimierung ermöglichen, d.h. eine mehr intuitive Entscheidung für das „beste“ Bild. Dabei geht es letztlich um die Wahrnehmung der Welt.
3. Digitale Marktforschung veranschaulicht Emotionen:
„Menschen hören über Kultur- und Ländergrenzen hinweg abends eher entspannende Musik. Tagsüber bevorzugen sie energiegeladene Stücke".
Das ist eines der Ergebnisse einer breit angelegten Studie der US-amerikanischen Cornell-Universität über Hörgewohnheiten von Musikfans in aller Welt. Sie gingen unter anderem der Frage nach, ob und inwiefern Lieder Gefühle beeinflussen und ob wir gezielt Musik auswählen, die zu unserer Stimmung passt.
Die Forscher untersuchten 765 Millionen Musikstücke, die von fast einer Million Menschen aus 51 Ländern auf der Plattform „Spotify“ gestreamt wurden, um stündliche, tägliche und saisonale Muster zu identifizieren. Und sie stellten fest, dass es trotz einiger Gemeinsamkeiten auch deutliche regionale Unterschiede gibt. So wählten Menschen in Asien eher entspannende Musik, Hörer in Lateinamerika hingegen mehrheitlich anregende Stücke.
Generell hören der Analyse zufolge vor allem jüngere Menschen intensivere Musik als ältere. Alles in allem kann allerdings auch die aktuelle Studie nicht stichhaltig beantworten, ob Musik unsere Emotionen beeinflusst oder wir Musik auswählen, die zu unserer Gemütslage passt – wahrscheinlich sei ein Wechselspiel beider Ansätze, so die Autoren.“ (Zit Nach DLF 24.01.19.)
Immerhin turnt die Untersuchung kleinteiligere, persönlichere Studien an, die ohne digitales Messtechnik unterblieben wären.
Vor allem aber haben Sie einen Effekt, dass sie durch qualitative Statistik und digitale Messinstrumente (Aussen) auf das Faktum der emotionalen Gemütslage (Innen) hinweist.
4. Aussen und Innen nachhaltig zugänglich machen:
Das liest sich als hätte Paul Valerie das kommentiert: Der Mensch, ein „Doppelwesen, worin innen und außen zwei getrennte, unabhängige, einander nahezu indifferente Leben führen“ (zit. nach: Der gesellige Einzelgänger Valéry. Eine Biografie von Denis Bertholet von Regina Roßbach).
"Gemütslage" ist individuell und nicht zuverlässig messbar. Messbar sind die Streamingzahlen. Und zwar direkt, nicht etwa nach Selbstaussage. Das ist das digital messbare Aussen: Dem Aussen tritt das Innen der Gemütslage entgegen. Eine eigene Wirklichkeit, die eigener Messung und Bewertung bedarf. Dies ist ein Beispiel für das Verhältnis zwischen beiden Dimensionen. Dass das Innere tw. auch messbar (z.B. chemische Reaktionen), ist, tut der Verschiedenheit keinen Abbruch. Ein neues Verstehen von Innen und Aussen bahnt sich an. Eines, das beides ist: Korrespondierend und eigenständig.
5. Wie wär ein nachhaltiger Seitensprung aus der Schablone?
Wolfgang Lettl, ein aus der Zeit gefallener surrealistischer Maler, stellt in seinem Bild Lebenslauf einen Mann dar, der aus seinem Bild, besser seiner Schablone, springt. Er wird dabei plastisch und mehrdimensional, wendet sich aber beim Sprung von uns ab.
Mit der Vinyl-Schallplatte liegt der Fall kaum anders: Die Haptik, das Visuelle, das Fühlbare tritt hervor, ungeachtet der Perfektion, die nicht auf dem neuesten Stand ist. Eine Dimension, die man so garnicht mehr auf der Rechnung hat, die aber ein Bedürfnis erfüllt.
Nicht die Nostalgie ist der "springende Punkt", sondern eine neu und wieder auftauchende Dimension der Wirklichkeit.
6. Nachhaltig den Weg ins Heute finden:
Die vollmundige Worthülse "Zukunft" braucht dringend Inhalt.
Ich selbst stehe z.B. vor der Frage: Denke ich in "Listen" oder in Einzelvorgängen? Das ist keine Frage nur der Herangehensweise. Mein Metier: Marketing, Interessentenansprache, Kommunikation. Meine Situation: Jeder Kommunikationsvorgang nimmt Listen-Charakter an. Ungewollt scrolle ich bei der Arbeit die Liste hoch und runter. Dabei wird die Kommunikation blind, verliert ihre Farbe, ihr Leben.
Das muss nicht so sein, ist aber so, weil der Kommunikator und der Kontrollator zwei verschiedene Typen sind, die ihr Augenmerk auf verschiedene Merkmale richten. Der Kontrollator auf bereits abstrahierte Daten. Der Kommunikator auf die Äusserung des Gegenübers, auf den Dialog, dazu zählt auch der eigene Part. Jeder Einfall, jeder Tonfall, jede Stimmung zählt. Und bei der Reaktion des Gegenübers ist es genauso.
1. Der Natur folgend nachhaltige Kommunikation anstossen:
Erstes Let it be is die Babybe-Matratze, eine Gelmatte, verbunden mit einer Matte im Inkubator. Babybe ist eine Gelmatte in Form einer Schildkröte, die auf dem Bauch der Mutter liegt und den Herzschlag, den Atem der Mutter, überträgt, genauso, wenn sie spricht, singt oder vorliest.
Das ist doch mal eine gelungene Kombination von Analog und Digital! Herzschlag, Atem, die Stimme, das alles ist analog. Die Übertragung aber ist digital. Und: Die Erfindung ist eine echte Innovation, eine Innovation, die nicht einfach beschleunigt oder technisiert. Ein Bruch im Denken ist nötig, ein Perspektiven-Wechsel. Mutter und Kind sind hier keine natürliche Einheit. Der Blick auf beide nimmt sie nicht gemeinsam wahr sondern wandert von der Mutter zum Kind, vom Kind zur Mutter. Er kommt einmal aus der Richtung Kind und einmal aus der Richtung Mutter. Das heisst: Die Technik ist mehr als ein Transportmittel. Die Perspektive ändert sich, der Blick auf das, was verbindet: die elektronische „Nabelschnur“.
2. Durch Technik Sehgewohnheiten nachhaltig beeinflussen:
"Dann nimmt man die Kamera hoch, korrigiert das Motiv noch mal. Man muss sich limitieren, man hat ja nur 36 Aufnahmen. Diese Selektion, die da stattfindet, das ist einfach eine andere Art, den Workflow zu organisieren."
Mirko Böddecker über die Rückkehr der analogen Fotografie, zit. nach DLF Nova vom 25.1.19 .
Wir haben richtig gelesen: Die Sehgewohnheiten ändern sich. Und das auch noch durch eine Technologie von gestern: Das Treffen der Auswahl, die Entscheidung für genau dieses Bild ist der Rubikon, den man ueberschreiten muss. Ein Schritt, der dann auch zeigt, was überschritten wurde in Richtung digital. Kaum merkbar überschritten, automantisch überschritten: Die Entscheidung, die Einmaligkeit wurde überschritten. Der Schritt zurück, der sehr populäre Schritt zurück, ist keine Nostalgie, es ist ein Zurück zur Entscheidung. Die Serie, die die digitale Fotografie (im Übergang zum Video) produziert, macht Bild für Bild winzige Unterschiede sichtbar, die allerdings höchstens eine Optimierung ermöglichen, d.h. eine mehr intuitive Entscheidung für das „beste“ Bild. Dabei geht es letztlich um die Wahrnehmung der Welt.
3. Digitale Marktforschung veranschaulicht Emotionen:
„Menschen hören über Kultur- und Ländergrenzen hinweg abends eher entspannende Musik. Tagsüber bevorzugen sie energiegeladene Stücke".
Das ist eines der Ergebnisse einer breit angelegten Studie der US-amerikanischen Cornell-Universität über Hörgewohnheiten von Musikfans in aller Welt. Sie gingen unter anderem der Frage nach, ob und inwiefern Lieder Gefühle beeinflussen und ob wir gezielt Musik auswählen, die zu unserer Stimmung passt.
Die Forscher untersuchten 765 Millionen Musikstücke, die von fast einer Million Menschen aus 51 Ländern auf der Plattform „Spotify“ gestreamt wurden, um stündliche, tägliche und saisonale Muster zu identifizieren. Und sie stellten fest, dass es trotz einiger Gemeinsamkeiten auch deutliche regionale Unterschiede gibt. So wählten Menschen in Asien eher entspannende Musik, Hörer in Lateinamerika hingegen mehrheitlich anregende Stücke.
Generell hören der Analyse zufolge vor allem jüngere Menschen intensivere Musik als ältere. Alles in allem kann allerdings auch die aktuelle Studie nicht stichhaltig beantworten, ob Musik unsere Emotionen beeinflusst oder wir Musik auswählen, die zu unserer Gemütslage passt – wahrscheinlich sei ein Wechselspiel beider Ansätze, so die Autoren.“ (Zit Nach DLF 24.01.19.)
Immerhin turnt die Untersuchung kleinteiligere, persönlichere Studien an, die ohne digitales Messtechnik unterblieben wären.
Vor allem aber haben Sie einen Effekt, dass sie durch qualitative Statistik und digitale Messinstrumente (Aussen) auf das Faktum der emotionalen Gemütslage (Innen) hinweist.
4. Aussen und Innen nachhaltig zugänglich machen:
Das liest sich als hätte Paul Valerie das kommentiert: Der Mensch, ein „Doppelwesen, worin innen und außen zwei getrennte, unabhängige, einander nahezu indifferente Leben führen“ (zit. nach: Der gesellige Einzelgänger Valéry. Eine Biografie von Denis Bertholet von Regina Roßbach).
"Gemütslage" ist individuell und nicht zuverlässig messbar. Messbar sind die Streamingzahlen. Und zwar direkt, nicht etwa nach Selbstaussage. Das ist das digital messbare Aussen: Dem Aussen tritt das Innen der Gemütslage entgegen. Eine eigene Wirklichkeit, die eigener Messung und Bewertung bedarf. Dies ist ein Beispiel für das Verhältnis zwischen beiden Dimensionen. Dass das Innere tw. auch messbar (z.B. chemische Reaktionen), ist, tut der Verschiedenheit keinen Abbruch. Ein neues Verstehen von Innen und Aussen bahnt sich an. Eines, das beides ist: Korrespondierend und eigenständig.
5. Wie wär ein nachhaltiger Seitensprung aus der Schablone?
Wolfgang Lettl, ein aus der Zeit gefallener surrealistischer Maler, stellt in seinem Bild Lebenslauf einen Mann dar, der aus seinem Bild, besser seiner Schablone, springt. Er wird dabei plastisch und mehrdimensional, wendet sich aber beim Sprung von uns ab.
Mit der Vinyl-Schallplatte liegt der Fall kaum anders: Die Haptik, das Visuelle, das Fühlbare tritt hervor, ungeachtet der Perfektion, die nicht auf dem neuesten Stand ist. Eine Dimension, die man so garnicht mehr auf der Rechnung hat, die aber ein Bedürfnis erfüllt.
Nicht die Nostalgie ist der "springende Punkt", sondern eine neu und wieder auftauchende Dimension der Wirklichkeit.
6. Nachhaltig den Weg ins Heute finden:
Die vollmundige Worthülse "Zukunft" braucht dringend Inhalt.
Ich selbst stehe z.B. vor der Frage: Denke ich in "Listen" oder in Einzelvorgängen? Das ist keine Frage nur der Herangehensweise. Mein Metier: Marketing, Interessentenansprache, Kommunikation. Meine Situation: Jeder Kommunikationsvorgang nimmt Listen-Charakter an. Ungewollt scrolle ich bei der Arbeit die Liste hoch und runter. Dabei wird die Kommunikation blind, verliert ihre Farbe, ihr Leben.
Das muss nicht so sein, ist aber so, weil der Kommunikator und der Kontrollator zwei verschiedene Typen sind, die ihr Augenmerk auf verschiedene Merkmale richten. Der Kontrollator auf bereits abstrahierte Daten. Der Kommunikator auf die Äusserung des Gegenübers, auf den Dialog, dazu zählt auch der eigene Part. Jeder Einfall, jeder Tonfall, jede Stimmung zählt. Und bei der Reaktion des Gegenübers ist es genauso.
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Montag, 28. Januar 2019
Paul Valery - ein erratischer Denker
kuehnesmallworld, 17:58h
In Zeiten, in denen wir vor lauter künstlicher Intelligenz vergessen, dass sich diese an der Intelligenz höchstselbst orientiert, sei ein Seitenblick auf den erratischen Denker Paul Valery gestattet. Erratisch, da ohne Vorbild, erratisch, da für sich stehend. Wie ein Felsblock, den die tektonische Bewegung weit weg ins Terrain verschoben hat. Zitate: Bertolet s.u.
„Schon in seiner Kindheit entwickelt Valéry ein „Doppelwesen, worin innen und außen zwei getrennte, unabhängige, einander nahezu indifferente Leben führen“. Fassbar wird das an seiner Scheu, Privates öffentlich zu machen. Alles Emotionale scheint ihm banal und wird seinem schon früh begonnenen Lebensprojekt untergeordnet: die Fähigkeiten des Intellekts, die Schönheit des Denkens in all ihren Nuancen zu erproben und auszureizen. Spätestens seit der als „Nacht von Genua“ bekannt gewordenen Persönlichkeitskrise von 1892, die ihn für fast zwanzig Jahre von der Dichtung Abschied nehmen lässt, ist absolute Rationalität zu seiner existentiellen Leitformel geworden.
Am deutlichsten wird dieses Lebenskonzept wohl an der Akribie, mit der er ab 1894 tagtäglich in den Morgenstunden seine berühmten „Cahiers“ verfasst, in die er Gedankenfetzen, Reflexionen wissenschaftlicher und philosophischer Art einträgt. Es ist ein immer weiter sich ausdehnendes Projekt, das am Ende seines Lebens fast 28.000 Seiten umfasst: eine „Wüste von Wörtern“, wie er selbst sagt. Schwer einzuschätzen, ob den „Cahiers“ bei Bertholet zu viel Raum eingeräumt wird, wie Jürgen Schmidt-Radefeldt in seinem Vorwort zu Bedenken gibt. Jedenfalls beginnt der „papierne Doppelgänger“ irgendwann ein Eigenleben zu entwickeln, das für Valéry Fluch und Segen zugleich bedeutet. Wenn er auch bei vielen seiner späteren Essays und Gedichte – mit 42 kehrt er zur Literatur zurück – aus dem Fundus der „Cahiers“ schöpfen kann, scheitern all seine Versuche, die Notizen durch Klassifizierung beherrschbar zu machen.
Er gibt sich geschlagen. Er wird dieses Mammutprojekt des Geistes zu Lebzeiten nicht abschließen. Ähnlich ergeht es ihm in anderen Bereichen. Wenn er versucht, auch sein Ego zu rationalisieren und zu begrenzen, gelingt das nicht auf ganzer Linie, wie Bertholet zeigt. Immer wieder wird er von psychischen Krisen und Krankheiten geschüttelt, lässt sich auf schwierige Liebesaffären ein und scheint mehrmals am Ende seiner Kräfte.
Dennoch sind seine intellektuellen Leistungen immens. Sein Interesse an Konstruktion und Struktur entsteht an Kunst und Architektur und lässt ihn später die Schönheit von Mathematik und Naturwissenschaften entdecken. Als Zeitgenosse von Einstein und Marie Curie bringt er die Logik der Naturwissenschaft in die Dichtung, bleibt immer mehr an der Technik als am Thema interessiert. Romane findet er trivial. Seine großen poetologischen Schriften und Vorträge betonen den Vorgang des Entstehens, nicht das fertige Werk. So gab es wohl nur wenige Autoren, die ihrer eigenen Zunft so kritisch gegenüberstanden wie Valéry: „Dichter ohne Dichtung, antiphilosophischer Philosoph, jetzt auch noch schreibender Nichtschriftsteller: Das macht zusammen eine Menge Paradoxe, aber so ist Valéry nun einmal“, schreibt Bertholet.
Man hat ihm vorgeworfen, dass er immer mehrere Tätigkeiten parallel verfolgt und dabei keine mit vollem Einsatz. Von einem Freund erfährt er, dass man ihn als Versager bezeichnet. Tatsächlich fällt es schwer, ihn einem Berufsbild zuzuordnen. Nach seinem Jurastudium veröffentlicht er Verschiedenes, ist im Staatsministerium tätig, dann langjähriger Privatsekretär von Édouard Lebey, dem Gründer der Presseagentur Havas. Immer verkehrt er in den besten Kreisen: Unter Intellektuellen, Wissenschaftlern, Künstlern, Politikern.
Der gesellige Einzelgänger Valéry“: eine Biografie von Denis Bertholet von Regina Roßbach
Sowie: Ich grase meine Gehirnwiese ab. Aus den Cahiers.
Fischer Tb
In Zeiten, in denen die Philosophie und die Sozialwisenschaften brüchig werden und in zählbare und statistikfreundliche Einzelteile auseinanderfallen, hat der erratische oder auch eklektische Denker Konjunktur.
„Schon in seiner Kindheit entwickelt Valéry ein „Doppelwesen, worin innen und außen zwei getrennte, unabhängige, einander nahezu indifferente Leben führen“. Fassbar wird das an seiner Scheu, Privates öffentlich zu machen. Alles Emotionale scheint ihm banal und wird seinem schon früh begonnenen Lebensprojekt untergeordnet: die Fähigkeiten des Intellekts, die Schönheit des Denkens in all ihren Nuancen zu erproben und auszureizen. Spätestens seit der als „Nacht von Genua“ bekannt gewordenen Persönlichkeitskrise von 1892, die ihn für fast zwanzig Jahre von der Dichtung Abschied nehmen lässt, ist absolute Rationalität zu seiner existentiellen Leitformel geworden.
Am deutlichsten wird dieses Lebenskonzept wohl an der Akribie, mit der er ab 1894 tagtäglich in den Morgenstunden seine berühmten „Cahiers“ verfasst, in die er Gedankenfetzen, Reflexionen wissenschaftlicher und philosophischer Art einträgt. Es ist ein immer weiter sich ausdehnendes Projekt, das am Ende seines Lebens fast 28.000 Seiten umfasst: eine „Wüste von Wörtern“, wie er selbst sagt. Schwer einzuschätzen, ob den „Cahiers“ bei Bertholet zu viel Raum eingeräumt wird, wie Jürgen Schmidt-Radefeldt in seinem Vorwort zu Bedenken gibt. Jedenfalls beginnt der „papierne Doppelgänger“ irgendwann ein Eigenleben zu entwickeln, das für Valéry Fluch und Segen zugleich bedeutet. Wenn er auch bei vielen seiner späteren Essays und Gedichte – mit 42 kehrt er zur Literatur zurück – aus dem Fundus der „Cahiers“ schöpfen kann, scheitern all seine Versuche, die Notizen durch Klassifizierung beherrschbar zu machen.
Er gibt sich geschlagen. Er wird dieses Mammutprojekt des Geistes zu Lebzeiten nicht abschließen. Ähnlich ergeht es ihm in anderen Bereichen. Wenn er versucht, auch sein Ego zu rationalisieren und zu begrenzen, gelingt das nicht auf ganzer Linie, wie Bertholet zeigt. Immer wieder wird er von psychischen Krisen und Krankheiten geschüttelt, lässt sich auf schwierige Liebesaffären ein und scheint mehrmals am Ende seiner Kräfte.
Dennoch sind seine intellektuellen Leistungen immens. Sein Interesse an Konstruktion und Struktur entsteht an Kunst und Architektur und lässt ihn später die Schönheit von Mathematik und Naturwissenschaften entdecken. Als Zeitgenosse von Einstein und Marie Curie bringt er die Logik der Naturwissenschaft in die Dichtung, bleibt immer mehr an der Technik als am Thema interessiert. Romane findet er trivial. Seine großen poetologischen Schriften und Vorträge betonen den Vorgang des Entstehens, nicht das fertige Werk. So gab es wohl nur wenige Autoren, die ihrer eigenen Zunft so kritisch gegenüberstanden wie Valéry: „Dichter ohne Dichtung, antiphilosophischer Philosoph, jetzt auch noch schreibender Nichtschriftsteller: Das macht zusammen eine Menge Paradoxe, aber so ist Valéry nun einmal“, schreibt Bertholet.
Man hat ihm vorgeworfen, dass er immer mehrere Tätigkeiten parallel verfolgt und dabei keine mit vollem Einsatz. Von einem Freund erfährt er, dass man ihn als Versager bezeichnet. Tatsächlich fällt es schwer, ihn einem Berufsbild zuzuordnen. Nach seinem Jurastudium veröffentlicht er Verschiedenes, ist im Staatsministerium tätig, dann langjähriger Privatsekretär von Édouard Lebey, dem Gründer der Presseagentur Havas. Immer verkehrt er in den besten Kreisen: Unter Intellektuellen, Wissenschaftlern, Künstlern, Politikern.
Der gesellige Einzelgänger Valéry“: eine Biografie von Denis Bertholet von Regina Roßbach
Sowie: Ich grase meine Gehirnwiese ab. Aus den Cahiers.
Fischer Tb
In Zeiten, in denen die Philosophie und die Sozialwisenschaften brüchig werden und in zählbare und statistikfreundliche Einzelteile auseinanderfallen, hat der erratische oder auch eklektische Denker Konjunktur.
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