Montag, 23. Februar 2015
Montag, 23. Februar 2015
Alles Lernen oder was?
Das muss man wohl annehmen, wenn man sich die Erkenntnisse der Neuropsychologie anschaut. Ob wir schmecken, uns erinnern, hören, sehen, schreiben oder sonst was tun: Wir lernen. Besser: Unser Nervensystem lernt. Sogar der religiöse Begriff der Vergebung erscheint psychoneurologisch aus grosser Ferne wunderbar nah gerückt und zwar nicht etwa als Vergessen, sondern als Erinnerung an die letzte oder vorletzte oder vorvorletzte Erinnerung, im Fall der Vergebung an eine Sicht der Dinge, die nicht aufrechnet. Eine Art positiver Vorgang der Überschreibung. Nicht verstandesgesteuert sonden psychoneurologisch vernetzt. Und damit die stärkste Figur in Kultur und Geschichte. Denn im Überschreibungsvorgang, den das neuronale Netz von morgens bis abends und auch nachts noch ins Werk setzt, wird nicht vergessen, sondern neu und anders eingeordnet.

Dass alles Lernen ist und zunehmend wird, darauf deuten verschiedene Anzeichen hin: Die Vielzahl der Lernorte, die wir heute auch "Dritte Arbeitsorte" nennen, die All-Gegenwart des digitalen Zugreifen-könnens, die abnehmende Bedeutung des Gebundenseins des Lernens an die einzelne Lern-Institution, in der es stattfindet. Mittels dieser Anzeichen setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass es nicht nur eine sondern viele Lernarten gibt (vgl. Benedict Carey: Wie wir lernen Rowohlt 2014). Ob das Lernen wie einst durch Memorieren oder wie meist jetzt noch durch schrittweises jahrgangsweises Vorrücken in der Gruppe oder Klasse erfolgt, ob es durch Bestrafen ungewünschter und Verstärken gewünschter Verhaltensweisen geschieht, immer ist es nur eine von vielen aus der grossen Zahl der Lernweisen und -arten.

Gemeinsam ist der hier genannten Auswahl die Einschränkung des Wahrnehmungsspektrums, die Konzentration auf den Lernstoff. Das sind Umstände, die die Kontrolle des Verhaltens, nun Lernfortschritte genannt, nahelegen und erforderlich machen. Kontrolle und Konzentration begleiten diese Pädagogik. Die zynische Übernahme des Begriffs für die Lagereinrichtungen durch die Nazis ist nicht zufällig. Aber auch beim Begriff der Umerziehung handelt es sich um mittels staatlicher Gewalt umgesetzte Zwangsmassnahmen. Entschulungs- und antiautoritäre Ansätze nehmen sich dagegen harmlos aus. Zu tief stecken Lebenswelt-Reduzierung und Aufrichtung interner Hierarchien bereits in unserem Bild vom Lernen und lernenden Menschen.

Ihm auch noch abzusprechen, was er schon längst gelernt hat, wenn auch woanders und auf andere Weise, ist der traurige Gipfel einer reduzierenden Lern-Umwelt und eines reduzierten Lernbegriffs. Dass die Kindheit von Hänschen mehr zähle als das Leben von Hans, dass der Mensch ein Gewohnheitstier sei, sind in "Fleisch und Blut" übergegangene Gewissheiten. Aber Lernen ist Leben und je mehr sich unser Begriff von menschlichem Leben bspw. durch die Neurowissenschaften erweitert (Beobachtung hätts auch getan), weitet sich unsere Vorstellung von dem, was Lernen ist: Längst keine blosse Optimierung und Anpassung sondern Verarbeitung, Übertragung und Kombination zu neuen Einsichten und Verhaltensweisen. Ein Lernen, das Freiheit, mindestens Bewegungsfreiheit, voraussetzt. Ein komplexes Nervensysten, neben dem sich die Computerisierung ausnimmt, wie eine Spielzeugeisenbahn, wartet nur darauf, Anregungen und Vor-Bilder aufzunehmen um sie auf ganz eigene Art zu verknüpfen und zu entwickeln. Und wenn wir der Summe unserer Erfahrungen und Einsichten Glauben schenken dürfen, dann war genau dies das Erfolgsrezept, dass die Entwicklung des Menschen beflügelte.

Nachwort: Im Blog steckt das Bre4, also auch hier: Das Kreative und das Religiöse ist natürlich auch im lernenden Gesamtsystem Mensch inbegriffen. Das Lernen und Verändern so zum Schlüsselbegriff wird, hab ich nicht gewusst, als ich Lernen unabhängig vom pädagogischen System zu meinem Lebensthema gemacht hab. Warum? Weil es das wohl schon war. Bis in die letzten Jahre aber hing man letztlich der Vorstellung an, dass das Hirn Steuerungsfunktion hat, aber dass wir das Hirn sind, dämmert uns jetzt. Ersteinmal bleibt unsere Vorstellung von uns davon unberührt. Auch die Vorstellung vom Fahren um ein Beispiel zu nennen, hält halt so lange an einem Steuer fest, bis andere Mechanismen entwickelt sind, die das Steuer ersetzen oder kompensieren.
Jedenfalls erscheint dem lernenden Gesamtsystem Mensch eine umittelbare Reaktion wie Rache oder Hass oder Auge um Auge hauptsächlich geeignet zu sein, um das Gefühl der Kontrolle, um die Oberhand zu behalten. Viel angemessener kann es aber sein, seine Reaktion nicht direkt an den (Aggressions-) Auslöser zu binden. Weitergehende Verschaltungen und Vernetzung können das Erlebte ganz anders einbinden und darstellen, als wir uns das heute noch träumen lassen. Einer der Kerngedanken der Kreativität und einer der Kerngedanken der Religion. Genauso unangemessen und falsch wäre es aber diesen Gedanken auf hergebrachte Art zum Instrument, sagen wir einer neuen Weltsicht oder Konfliktlösungsstrategie zu machen. Wir sässen, um das Bild zu gebrauchen, sozusagen wieder am Steuer. Wir haben den Gedanken und das reicht, um das Wirklichkeitsspektrum, das wir im Visir haben, zu erweitern. Eine vom Tremolo der Überzeugung durchdrungene Meditation über das Gesamtsystem Mensch braucht es nicht. Aber es braucht das Denken und das ist ohne die Freiheit auch etwas anderes zu denken, es denkbar zu machen, schlechterdings nicht möglich. Alles andere ist Dummheit.

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