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Donnerstag, 5. Februar 2015
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kuehnesmallworld, 09:23h
Sprechen, Sehen, Schmecken. Neuro-Wissenschaft trifft Kunst.
Jonah Lehrer über Getrude Stein, Cezanne und Proust: Prousts Madeleine Hirnforschung für Kreative. München Zürich 2007
Sprechen: Getrude Stein, Zeitgenossin und Förderin von u.a. Hemmingway, hat sich zuerst mit Medizin und Sprachstrukur befasst. Die Struktur der Sprache ist im Gehin verankert, so ihr wissenschaftliches Fazit und so ihre künstlerische Praxis, die diese Struktur ohne Rücksicht auf unser Sinn- und ästhetisches Empfinden sichtbar machen will. Eines der dabei zur Sprache kommenden Phänomene war die "schläfrige Zustimmung" zum Text ( William James), die solage besteht, bis ein in diesen Zusammenhang nicht passender Begriff auftaucht, und mir der Satz förmlich um die Ohren fliegt. Warum wohl? Begriffe sind keine messerscharfen Definitionen sondern "schillernde" Gebilde, die weniger den Gegenstand beschreiben, als viel mehr den Sprachgebrauch. "Wir codieren unsere Wahrnehmungen ständig neu ...", formuliert der Psychologe George Miller (227), statt dass wir Wörter aneinander fügen.
Mein Beispiel aus unsere schönen neuen Wissenschaftswelt: Da ist vom "process-owner" die Rede. Der Owner/Besitzer kommt als Vorstellung aber aus einer ganz anderen Welt als der Prozess. Zumindest im Deutschen, wo er ja sein denglisches Unwesen treibt. Der Owner/Besitzer zeigt Besitzverhältnisse dessen an, der den Arbeitsplatz und die Position innehat. Die Verbindung von Process und Owner entlarvt die Verbindung heterogener Vorstellungen zu einem homogenen "Verbund".
Sehen: Cezannes klobige Gebilde entsprechen viel mehr den Endrücken des Sehens im Gehirn als die pixelgenau Abbildung der Aussenwelt auf der Netzhaut oder das impressionistische Ineinanderfliessen von Formen und Farben. Die fotographiegenaue Abbildung stellt die letzte Verarbeitungsstufe des Gesehenen im Gehirn dar, die reizüberflutende Impression eine Stufe davor. Die elementare Stufe aber sind die Balken und Flächen, die "taches und touches", das was der erste flüchtige Eindruck 'aus den Augenwinkeln' oder beim schnellen Drehen des Kopfes liefert. Die Horizontlinien, ob nun die der Montagnes Victoires bei Cezanne oder die der Vogesen bei Büchners Lenz strukturieren und reduzieren das (Landschafts-) Bild. Cezanne hat genauer gesehen, Wahrnehmungen einbezogen, über die andere hinweggingen. Und damit hat Cezanne die "Ausrichtung von Linien", die "Kontraste", "Kanten und Kurven" erfasst wie sie Neuronen übermitteln, bevor "das Gehirn noch dabei ist, den Sehnerv zu aktivieren" (157). Aus den "Kanten" entwickeln sich erst die Formen (158). Unsere Inflation codierter Bilder wird sich böse rächen, sie wird uns Phantasie und Perspektiven kosten. Immer mehr werden wir Gefangene unserer Vorstellungen, während die elementareren Wahrnehmungen an der Peripherie des Zufälligen "vibrieren" (162) und schimmern, wie bei Gertrude Stein zu sehen war. Unsere scheinbare Präzision der Wissenschaftssprache enttarnt sich als Sprach-Fast-Food, bei dem die Zutaten in Prozentzahlen genau beziffert sind, der Prozess der Zusamensetzung aber vor lauter Verarbeitung unkenntlich geworden ist. Die Langeweile, die uns überkommt, wenn wir diese Abhandlungen lesen, sagt alles.
Schmecken: Und dann Marcel Proust und dann die stattsam bekannten Madeleines. Und dann die weniger sattsam bekannte Kombination von "Langeweile" und "Extase" (118), die Gegensätze, die die Erinnerungsspuren aufweisen. Sind doch Geruchs- und Geschmmackssinn direkt an den Hippocampus angeschlossen, dort, wo das Langzeitgedächtnis ruht (123). Und so kann so ein harmloser spontaner Geschmackseindruck plötzlich eine ganze Erinnerungswelt lostreten. Und das ohne, dass händeringend nach Deutung gesucht werden muss. Etwas Umfassenderes nämlich ist passiert: Die Zeit wurde gefunden, Die Zeit, die irgendwo verloren gegangen ist in den Tiefen unserer Nervenzellen. Nervenzellen, die Leerstellen, Spalten brauchen, um Vorstellungen zu bilden! Die letzte Erinnerung verändert alle vorangegangenen, überschreibt sie. Ein religiöser Begriff wie Vergeben bekommt plötzlich eine neuronale Basis und wird als dem Gefängnis des blossen Willensaktes befreit. Und wieder sinds die "Ränder" (132), von denen das Vibrieren, das Schimmern (s.o) ausgeht, an denen diese Erinnerungen bearbeitet und überarbeitet werden. Wie entsteht Erinnerung, wie verändert sie sich? Der Sinneseindruck setzt die Neuronen in Bewegung: "Und genau an diesen winzigen Verbindungsstellen werden unsere Erinnerungen gebildet ...." Erinnerungen ist ein anders Wort für Vorstellung.
Auch Oberflächen, um meinerseits heute domiante Vorstellungen und Wahrnehmungen aufzurufen, sind keine Oberflächen. Ihr Verhältnis zum Stoff, zur Struktur ist ein vielfältiges, wenn auch kein einfach linear ableitbares. Vielfach gebrochen, vermiitelt, geschönt, getäuscht. Diese Oberflächen werden einen anderen Eindruck hinterlassen als die homogenen, die so homogen auch nicht waren. Einen vielfältigen Eindruck. Die von neuen Verbundstoffen erzeugte Illusion von Holz, Metall etc. wird keinesfalls halten, sondern bestenfalls Ambivalenz, Unsicherheit oder das Gefühl des Getäuscht-werdens zurücklassen bis sich an den neuen stofflichen Oberflächen adäquate Wahrnehmungen gebildet haben. Die Retro-Sehnsucht nach Echtheit wirds jedenfalls nicht tun.
Wie jedenfalls gehen wir mit "Innovationen" um? Sehen wir in Ihnen nur das entdeckte Neue oder ist uns klar, dass diese Erfindung und Wahrnehmung angebahnt wurde durch eine Vielzahl an vorangegangenen Eindrücken und Erfahrungen aus ganz verschiedenen Bereichen, die sich zu einem Bild zusammenfügen.
Jonah Lehrer über Getrude Stein, Cezanne und Proust: Prousts Madeleine Hirnforschung für Kreative. München Zürich 2007
Sprechen: Getrude Stein, Zeitgenossin und Förderin von u.a. Hemmingway, hat sich zuerst mit Medizin und Sprachstrukur befasst. Die Struktur der Sprache ist im Gehin verankert, so ihr wissenschaftliches Fazit und so ihre künstlerische Praxis, die diese Struktur ohne Rücksicht auf unser Sinn- und ästhetisches Empfinden sichtbar machen will. Eines der dabei zur Sprache kommenden Phänomene war die "schläfrige Zustimmung" zum Text ( William James), die solage besteht, bis ein in diesen Zusammenhang nicht passender Begriff auftaucht, und mir der Satz förmlich um die Ohren fliegt. Warum wohl? Begriffe sind keine messerscharfen Definitionen sondern "schillernde" Gebilde, die weniger den Gegenstand beschreiben, als viel mehr den Sprachgebrauch. "Wir codieren unsere Wahrnehmungen ständig neu ...", formuliert der Psychologe George Miller (227), statt dass wir Wörter aneinander fügen.
Mein Beispiel aus unsere schönen neuen Wissenschaftswelt: Da ist vom "process-owner" die Rede. Der Owner/Besitzer kommt als Vorstellung aber aus einer ganz anderen Welt als der Prozess. Zumindest im Deutschen, wo er ja sein denglisches Unwesen treibt. Der Owner/Besitzer zeigt Besitzverhältnisse dessen an, der den Arbeitsplatz und die Position innehat. Die Verbindung von Process und Owner entlarvt die Verbindung heterogener Vorstellungen zu einem homogenen "Verbund".
Sehen: Cezannes klobige Gebilde entsprechen viel mehr den Endrücken des Sehens im Gehirn als die pixelgenau Abbildung der Aussenwelt auf der Netzhaut oder das impressionistische Ineinanderfliessen von Formen und Farben. Die fotographiegenaue Abbildung stellt die letzte Verarbeitungsstufe des Gesehenen im Gehirn dar, die reizüberflutende Impression eine Stufe davor. Die elementare Stufe aber sind die Balken und Flächen, die "taches und touches", das was der erste flüchtige Eindruck 'aus den Augenwinkeln' oder beim schnellen Drehen des Kopfes liefert. Die Horizontlinien, ob nun die der Montagnes Victoires bei Cezanne oder die der Vogesen bei Büchners Lenz strukturieren und reduzieren das (Landschafts-) Bild. Cezanne hat genauer gesehen, Wahrnehmungen einbezogen, über die andere hinweggingen. Und damit hat Cezanne die "Ausrichtung von Linien", die "Kontraste", "Kanten und Kurven" erfasst wie sie Neuronen übermitteln, bevor "das Gehirn noch dabei ist, den Sehnerv zu aktivieren" (157). Aus den "Kanten" entwickeln sich erst die Formen (158). Unsere Inflation codierter Bilder wird sich böse rächen, sie wird uns Phantasie und Perspektiven kosten. Immer mehr werden wir Gefangene unserer Vorstellungen, während die elementareren Wahrnehmungen an der Peripherie des Zufälligen "vibrieren" (162) und schimmern, wie bei Gertrude Stein zu sehen war. Unsere scheinbare Präzision der Wissenschaftssprache enttarnt sich als Sprach-Fast-Food, bei dem die Zutaten in Prozentzahlen genau beziffert sind, der Prozess der Zusamensetzung aber vor lauter Verarbeitung unkenntlich geworden ist. Die Langeweile, die uns überkommt, wenn wir diese Abhandlungen lesen, sagt alles.
Schmecken: Und dann Marcel Proust und dann die stattsam bekannten Madeleines. Und dann die weniger sattsam bekannte Kombination von "Langeweile" und "Extase" (118), die Gegensätze, die die Erinnerungsspuren aufweisen. Sind doch Geruchs- und Geschmmackssinn direkt an den Hippocampus angeschlossen, dort, wo das Langzeitgedächtnis ruht (123). Und so kann so ein harmloser spontaner Geschmackseindruck plötzlich eine ganze Erinnerungswelt lostreten. Und das ohne, dass händeringend nach Deutung gesucht werden muss. Etwas Umfassenderes nämlich ist passiert: Die Zeit wurde gefunden, Die Zeit, die irgendwo verloren gegangen ist in den Tiefen unserer Nervenzellen. Nervenzellen, die Leerstellen, Spalten brauchen, um Vorstellungen zu bilden! Die letzte Erinnerung verändert alle vorangegangenen, überschreibt sie. Ein religiöser Begriff wie Vergeben bekommt plötzlich eine neuronale Basis und wird als dem Gefängnis des blossen Willensaktes befreit. Und wieder sinds die "Ränder" (132), von denen das Vibrieren, das Schimmern (s.o) ausgeht, an denen diese Erinnerungen bearbeitet und überarbeitet werden. Wie entsteht Erinnerung, wie verändert sie sich? Der Sinneseindruck setzt die Neuronen in Bewegung: "Und genau an diesen winzigen Verbindungsstellen werden unsere Erinnerungen gebildet ...." Erinnerungen ist ein anders Wort für Vorstellung.
Auch Oberflächen, um meinerseits heute domiante Vorstellungen und Wahrnehmungen aufzurufen, sind keine Oberflächen. Ihr Verhältnis zum Stoff, zur Struktur ist ein vielfältiges, wenn auch kein einfach linear ableitbares. Vielfach gebrochen, vermiitelt, geschönt, getäuscht. Diese Oberflächen werden einen anderen Eindruck hinterlassen als die homogenen, die so homogen auch nicht waren. Einen vielfältigen Eindruck. Die von neuen Verbundstoffen erzeugte Illusion von Holz, Metall etc. wird keinesfalls halten, sondern bestenfalls Ambivalenz, Unsicherheit oder das Gefühl des Getäuscht-werdens zurücklassen bis sich an den neuen stofflichen Oberflächen adäquate Wahrnehmungen gebildet haben. Die Retro-Sehnsucht nach Echtheit wirds jedenfalls nicht tun.
Wie jedenfalls gehen wir mit "Innovationen" um? Sehen wir in Ihnen nur das entdeckte Neue oder ist uns klar, dass diese Erfindung und Wahrnehmung angebahnt wurde durch eine Vielzahl an vorangegangenen Eindrücken und Erfahrungen aus ganz verschiedenen Bereichen, die sich zu einem Bild zusammenfügen.
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